Verfassungsgerichtsbarkeit im Streit

Dieter Grimm beleuchtet die alte Kontroverse zwischen Kelsen und Schmitt

Matthias Wiemers

Es ist für uns heute kaum noch vorstellbar, wie vor 100 Jahren die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit im Streit stand. Die Weimarer Reichsverfassung führte sie zaghaft ein, indem sie beim Reichsgericht den Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich einrichtete. Parallel dazu hatte unter maßgeblicher Autorenschaft Hans Kelsens die Republik Österreich 1920 mit der neuen Verfassung auch den Verfassungsgerichtshof eingerichtet.
Kelsen und sein gleich mehrfacher Antipode Carl Schmitt hatten auch zu dieser Frage unterschiedliche Ansichten. Und wer könnte gegenwärtig einen besseren Blick auf diesen historischen Streit werfen als der ausgewiesene Verfassungstheoretiker und Rechtshistoriker Dieter Grimm?
Grimm hat nun also im Jahre 2017 bereits in Berlin einen Vortrag vor der Carl Schmitt Gesellschaft gehalten, der nun endlich im Hausverlag Schmitts, bei Duncker & Humblot in Berlin, veröffentlicht wurde.
Der Vortrag gliedert sich in zwei Teile: Einmal rekonstruiert Grimm die historische Kontroverse und geht dann in einem zweiten Teil auf „Die heutige Lage“ ein.
Der Ausgangspunkt Grimms ist naheliegend: Er hat zunächst in die „Verfassungslehre“ Schmitts aus dem Jahre 1928 geschaut und gefunden, dass darin die Verfassungsgerichtsbarkeit „nur im Kleindruck“ und verstreut erwähnt wird. In dem Streit um das richterliche Prüfungsrecht (gegenüber Gesetzen) und damit um die Verfassungsgerichtsbarkeit ist der eigentliche Gegenstand des Streits die parlamentarische Demokratie gewesen (S. 10).
Als Auslöser des Streits zwischen Schmitt und Kelsen wird Kelsens Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung 1928 in Wien angesehen – zeitlich nach der Abfassung der „Verfassungslehre“ –, mit dem Thema „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“. Als eine Antwort darauf wird Schmitts Beitrag „Der Hüter der Verfassung“ im Archiv des öffentlichen Rechts nachgewiesen.
Grimm weist auch nach, dass Kelsen eigentlich in der Bundesverfassung von 1920 ein richterliches Prüfungsrecht nur in Bezug auf Landesrecht vorgesehen hatte und führt dies auf Kelsens Theorie vom Stufenbar der Rechtsordnung zurück (S. 14 f.).
Die Ablehnung einer Verfassungsgerichtsbarkeit durch Schmitt wird auf dessen fundamentale Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung zurückgeführt, während die Unterscheidung bei Kelsen nur als graduell angesehen werde (S. 17) .
Grimm identifiziert einen Satz Schmitts aus dem AöR-Aufsatz (, dem weitere Schriften folgten) als Kern seiner Argumentation: Durch das richterliche Prüfungsrecht entstehe „noch keine besondere Instanz, deren Funktion in einem spezifischen Sinne Wahrung und Hütung der Verfassung wäre“. Schmitt habe sich nicht „mit der spezifischen Funktion eins gerichtlichen Hüters der Verfassung, die etwas wesensmäßig Politisches“ entscheide, abfinden können (S. 23).
Sodann schildert Grimm, wie Schmitt in mehreren Schritten einen anderen Hüter der Verfassung, nämlich den Reichspräsidenten, in Position bringt (S. 24 ff.) und weist nach, wie Kelsen dem entgegentrat, indem er nachweist, dass Parlament und Reichspräsident gleichermaßen demokratisch legitimiert sind (S. 27). Namentlich der Nachweis der Argumentationsschritte Schmitts, die dieser in mehreren Schriften vollzieht, zeigt den großen Überblick Grimms über die Sache, die es dem Leser erspart, diese Schriften allesamt nachzulesen – oder ihn gerade dazu ermuntert.
Zu Beginn des zweiten Teils seines Vortrags fasst Grimm die Kontroverse Schmitt-Kelsen noch einmal dahingehend zusammen, „dass Schmitt politische Entscheidungen nicht der Justiz überlassen, Kelsen die Befolgung der Verfassung nicht ins Belieben der Politik stellen wollte.“ Beides habe seine Berechtigung, und wem man folge, hänge davon ab, wo die Verfassungsrechtsprechung einzuordnen sei, beim Recht oder bei der Politik (S. 29).
Wenn Kelsens Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit sich nun durchgesetzt habe, heiße dies aber nicht, dass damit auch die Herleitung aus der Reinen Rechtslehre verbunden sei, denn der Positivismus sei diskreditiert gewesen (S. 30). Und Grimm erzählt die Geschichte von der wertorientierten Rechtsprechung des BVerfG und die Kritik durch die Schüler Schmitts nach.
Zentrales Kriterium, an dem sich Verfassungsgerichtsbarkeit heute messen lasse müsse, sei die Demokratie, und die Verfassung müsse sich auf Organisations- und Verfahrensregeln beschränken, auf das Ziel demokratischer Willensbildung hin (S. 33 f., 36): „Verfassungsgerichtsbarkeit erhöht (dagegen) die Chancen für Beachtung der Verfassung im politischen Prozess und verhindert, dass sich im Konflikt über ihre Anforderungen stets die Machthaber durchsetzen“ (S. 37). Und in der Folge referiert Grimm den bis heute – auch über Fachgrenzen hinweg – geführten Streit um Recht und Politik.
Die kleine Geschichte eines wissenschaftlichen Streits zweier bedeutender Kontrahenten zeigt, dass dieser Streit zwar nicht völlig aufgelöst werden kann. Er zeigt aber auch, wie wissenschaftliche Lehren und ihre Protagonisten in ihre jeweilige Zeit gestellt sind. Grimms Vortrag zeigt auch, dass man sich der eigenen Prämissen und Vorverständnisse immer wieder vergewissern muss. Auch, wenn man sich als Jurist bis heute der Gerechtigkeit verpflichtet weiß.
Lesenswert!

Recht oder Politik? Die Kelsen-Schmitt-Kontroverse zur  Verfassungsgerichtsbarkeit und die heutige Lage. Von Dieter Grimm, Berlin 2020, 51 S., 24, 90 Euro ( 978-3-428-18099-8)

Veröffentlicht von on Jan 18th, 2021 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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