Ein Kronzeuge seiner Zeit 

Deutsche Juristenbiographien, Teil: 35: Harry Graf Kessler (1868 bis 1937)

Matthias Wiemers

Der auch als „roter Graf“ bezeichnete Kessler absolviert vor allem deshalb ein Jurastudium, weil er Diplomat werden will. Mit nur wenigen berühmten Zeitgenossen seiner Zeit war er nicht persönlich bekannt.

Kesslers Vater Adolf Wilhelm Kessler, mütterlicherseits aus einer reichen Bankiersfamilie stammend, begründete das Vermögen der Familie, indem er vor allem als Hamburger Bankier an der Abwicklung der französischen Kriegsentschädigungen nach dem Krieg von 1870/71 verdiente.

Seine britische Mutter Alice Harriet Blosse Lynch, die in höfischen Kreisen Berlins verkehrte, war derart hübsch, dass man dem alten König Wilhelm I. von Preußen, späterem Kaiser, andichtete, der Vater Harry Kesslers zu sein. Das Gerücht gilt als widerlegt.

Harry Clément Ulrich Kessler wird am 23. Mai 1868 in Paris geboren. Nach zweijährigem Schulbesuch in Frankreich, schicken ihn die Eltern im Herbst 1880 auf eine englische Privatschule in Ascot, nach zwei Jahren erfolgt der Wechsel auf das Johanneum in Hamburg. Der Vater, der 1881 in den erblichen Grafenstand erhoben wird, hat für seinen einzigen Sohn eine Diplomatenkarriere ins Auge gefasst. 1888 Abitur in Hamburg, danach Reise nach Paris, Spanien und Afrika bis nach Bonn, wo er zum Wintersemester das Studium der Rechtswissenschaften aufnimmt. Der Vater, zwischenzeitlich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, hatte den Sohn eher in einer Banklaufbahn gesehen, aber der junge Harry hat sich vorgenommen, eine Rolle in der Gesellschaft zu spielen und ist der Meinung, dies am besten mit einem Jurastudium erreichen zu können.

Nach einem Jahr Bonn erfolgt der Wechsel an die Universität Leipzig, wo Kessler u. a. bei dem Nationalökonomen Lujo Brentano, dem Experimentalpsychologen Wilhelm Wundt und dem Kunsthistoriker Anton Springer hört. Hatte Kessler in Bonn den Eintritt in das Corps Borussia vermieden, so tritt  er in Leipzig der Canitzgesellschaft bei, die in den Fünfzigerjahren in Westberlin wiederbegründet wird.

Der Weg zu Brentano, einem der berühmten „Kathedersozialisten“, führt über Lektüre und eigene Anschauung des Arbeiterelends u. a. in London. Noch wichtiger als die Politik entwickelt sich in Leipzig die Kunst zu Kesslers wichtigstem Interessengebiet neben dem Rechtsstudium.

1891 findet Kessler über die Lektüre von „Menschliches, Allzumenschliches“ zu Friedrich Nietzsche, den er später allerdings nur noch in dessen Endphase geistiger Umnachtung kennenlernt. Die Schwester des Philosophen, Elisabeth Förster-Nietzsche, unterstützt Kessler später bei Errichtung und Unterhaltung des Nietzsche-Archivs in Weimar. Im November folgt das Referendarexamen mit der Note „gut“ und promoviert mit dem Prädikat „magna cum laude“. Vor Antritt des nun anstehenden Militärdienstes als Einjähriger reist Kessler zunächst einmal nach New York, wo er als unbezahlter Mitarbeiter für einige Monate in einer Anwaltsfirma arbeitet. In dieser Zeit erlangt Kessler Zugang zu führenden Kreisen der amerikanischen Gesellschaft, lernt aber auch weite Teile des gesamten Landes kennen. Nach Rückkehr im August 1892 erfolgt der Dienst bei den 3. Garde-Ulanen in Potsdam, einem Kavallerieregiment. Nach Ende der formalen Ausbildung folgt die Ausbildung als Gerichtsreferendar in Spandau bei Berlin, verbunden mit der Erwartung, nach einigen Jahren in den Auswärtigen Dienst aufgenommen zu werden. In dieser Zeit beginnt Kessler ein reges gesellschaftliches Leben, besucht Salons und Orte von Kunst und Kultur in der Hauptstadt Berlin. Die Referendarausbildung langweilt ihn. Der vermögende Kessler betätigt sich als Kunstmäzen, Autor und Sammler, schließlich als Kunstverleger. Als bekennender Homosexueller ist er an der Gründung einer eigenen Familie und damit der Bewahrung seines ererbten Vermögens nicht interessiert.

Die Referendarausbildung wird schließlich nicht beendet, ein zwischenzeitlich mit Hilfe des Vaters unternommener Vorstoß, ohne Examen im Diplomatischen Dienst unterzukommen, scheitert. 1903 wird Kessler ehrenamtlich Direktor des Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Weimar, wo er eine Villa bewohnt. Die Berliner Wohnung behält er aber bei und ist – neben weiteren Reisen – vor allem zwischen Berlin, Paris und London unterwegs. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wird Kessler als Rittmeister in der Artillerie tätig. 1918 kurze Zeit als Gesandter an der deutschen Botschaft in Warschau doch noch in offizieller diplomatischer Stellung, setzt sich Kessler in der Folgezeit für den Gedanken des Völkerbundes ein. Während der Weimarer Republik ist Kessler publizistisch tätig und verfasst u. a. eine sehr verbreitete Biographie des von Rechtsextremisten ermordeten Freundes Walter Rathenau. Eine Reichstagskandidatur für die Deutsche Demokratische Partei im Jahre 1924 misslingt. Schon während der Zwanzigerjahre verarmt Kessler und muss nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ins Exil gehen, zunächst nach Mallorca, das nach Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs untragbar wird, dann nach Südfrankreich, wo er völlig verarmt 1937 in Lyon stirbt.

Die Fülle der Aktivitäten dieses Menschen auf kulturellem Gebiet kann hier nicht dargestellt werden. Politisch hat er sich für Völkerverständigung eingesetzt – nicht zuletzt durch seine zahlreichen Verbindungen nach Großbritannien, Frankreich und in die USA. Von diesem erlebnisreichen Leben zeugen Tagebücher, die Kessler von 1880 bis 1937 praktisch ununterbrochen geschrieben hat.

Quelle: Laird M Easton, Der Rote Graf. Harry Graf Kessler und seine Zeit, Stuttgart 2005

 

Veröffentlicht von on Feb 7th, 2021 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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