Thomas Olechowski legt eine fulminante Hans-Kelsen-Biographie vor
Matthias Wiemers
Hans Kelsen gilt zu recht als einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Wie auch seine Zeitgenossen Carl Schmitt und Rudolf Smend, die man vielfach in einem Atemzug mit ihm zu nennen pflegt, hat er freilich auch ein ähnlich hohes Alter erreicht. Dies ist eine gute Ausgangsposition, um ein ereignisreiches Leben zu leben. Seinen beiden Zeitgenossen hat Kelsen ein teilweise noch weitergehendes öffentliches Interesse voraus, das sich auch in mehreren Forschungsinstituten manifestiert, die sich mit Leben und Werk Kelsens beschäftigen. Es lag daher nahe, ihm eine ausführliche Biographie zu widmen, die sich Leben und Werk Kelsens gleichermaßen widmet. Mit diesem Projekt wurde der Wiener Rechtshistoriker Thomas Olechowski beauftragt, der sich zudem auf ein aus mehreren Personen bestehendes Team stützen konnte, die wie er von gleich mehreren Stellen finanziell und ideell unterstützt wurden – allen voran das Hans Kelsen Institut an der Universität Wien, dessen Co-Vorsitzender Olechowski inzwischen ist. Das Projekt erstreckte sich über 17 Jahre, das Werk hat kein Vorbild.
Zutreffend weist der Autor eingangs etwa darauf hin, dass Reinhard Mehrings große Carl-Schmitt-Biographie erstens auf umfangreiche Tagebuchaufzeichnungen Schmitts zurückgreifen konnte und zweitens die jeweiligen politischen Verhältnisse der Zeit wie auch die Kenntnis des Inhalts seiner Schriften habe voraussetzen können. Mag auch Mehring in seinem Werk hier und da einiges zu viel an Kenntnissen beim Leser vorausgesetzt haben, so müssen wir davon ausgehen, dass die größte Zahl an Lesern auch bei Kelsen in Deutschland zu suchen sein wird und dass diesem Publikum allein die staatlichen Grenzverschiebungen in den Gebieten, in denen sich die ersten Lebensjahrzehnte Kelsens vollzogen, weitgehend unbekannt sein werden. Olechowski geht gar von einem weltweiten Lesepublikum aus, wo immer Kelsens Werke gelesen werden. Deshalb gelte, „dass die deutsche, schweizerische, tschechoslowakische Geschichte, soweit sie für Kelsen von Einfluss war, nicht als bekannt vorausgesetzt, sondern hier – so kurz als möglich, aber so lang wie nötig – referiert wird.“ Dies äußert sich etwa durchgehend darin, dass den Ortsnamen, die der Autor in der zeitgenössischen Form präsentiert, immer in Klammern der aktuelle Name mit Angabe des Staates versehen hinzugefügt wird. Dies dient zur Orientierung in einem wechselvollen Ost- und Mitteleuropa. Und diese Geschichte macht zugleich den Band so interessant und lesenswert.
Nach einer Einleitung, wo auch methodische Fragen erörtert werden, hat Olechowski das Werk in vier große Teile gegliedert: „In der Habsburgermonarchie“, „Als Professor an der Universität Wien“, „Köln – Genf – Prag“ und „Amerika und die Welt“.
Der Autor lässt die Geschichte im galizischen Brody beginnen, das heute zur Ukraine gehört und wo der Vater Kelsens geboren wurde, der sich später als kleiner Fabrikant in Wien selbstständig macht. Der Leser fühlt sich sogleich in die Romanwelt Joseph Roths versetzt, der auch aus Brody stammte.
Der Vater ist dann mehrere Jahre in Prag tätig, wo am 11. Oktober 1881 Hans Kelsen die Welt erblickt. Olechowski schildert den Werdegang namentlich des Vaters, der mit seinem Unternehmen letztlich scheitert und früh verstirbt. Er schildert auch, wie der Vater seinen Namen Abraham früh in Adolph ändert, ohne jedoch die religiöse Konversion vom Judentum zum Christentum vorzunehmen. Auch Hans wird demnach jüdisch erzogen (vgl. S. 40 ff.). Der Autor schildert nicht nur das unternehmerische (Miß)Geschick) des Vaters, sondern auch die komplizierten Rechtsverhältnisse des KuK-Reichs hinsichtlich des Heimatrechts der aus allen Teilen des Reiches nach Wien oder Prag strömenden Untertanen (S 44 f.).
Interessant ist auch die Schilderung des öffentlichen Schulwesens und die Tatsache, dass Kelsen auf einer Evangelischen Schule eingeschult wurde und dann auf das Akademische Gymnasium ging, wo der Anteil jüdischer Schüler die Mehrheit bildete (S. 45 ff.). Über die Schulkarriere Kelsens erfährt man jedoch wenig, dafür viel über das damals im Schulwesen Übliche. Kelsen sei ein mittelmäßiger Schüler (und Student) gewesen (S. 57 und 89 f.). Auch die kurze Karriere als Wehrpflichtiger wird geschildert und sodann der Übergang an die Universität. Olechowski schildert die damalige Universitätslandschaft in Österreich-Ungarn und dann die Verhältnisse an der Universität Wien in Kelsens Studienzeit. Hierzu kann er schon mehr auf Kelsens eigene biographische Aufzeichnungen zurückgreifen. Zur Wissenschaft und zum Publizieren sei Kelsen möglicherweise durch das Vorbild des anderthalb Jahre Älteren Otto Weininger gekommen, eines Schulfreundes und promovierten Philosophen, der seinem Leben jung ein Ende setzte (S. 75 ff.). Jedenfalls schreibt Kelsen noch als Student ein Buch „Die Staatslehre des Dante Alighieri“, das in eine renommierte Schriftenreihe an der Universität aufgenommen wird, was Olechowski als den Beginn der schriftstellerischen Tätigkeit Kelsens schildert (S. 80 ff.). In der Folge wird im Rahmen des Bandes nahezu das vollständige zu Lebzeiten Kelsens veröffentlichte oder nicht veröffentlichte Werk geschildert, ohne freilich ins Detail zu gehen.
Geschildert wird auch die Taufe zum Katholizismus, obwohl dies für die Promotion längst nicht mehr erforderlich gewesen sei – wohl aber faktisch für eine Karriere beim Staat (S. 87). Das Studium endete mit der Promotion, wozu keine eigenständige Arbeit zu verfassen war. Dies lässt den Leser auch nachvollziehen, warum seinerzeit Habilitationen mit Mitte der 20 erfolgen konnten. Kelsen ist 29 Jahre, als er sich habilitiert. Olechowski schildert auch die Anforderungen für die Aufnahme einer Advokatur, was Kelsen offenbar zunächst angestrebt hat (S. 92)
Auch wird der Einfluss Georg Jelineks geschildert, an dessen Heidelberger Seminaren Kelsen zweimal teilnimmt – auch wenn er später in seiner Lehre andere Wege geht. Zwischendurch werden immer wieder einzelne Arbeiten Kelsens eingestreut, ohne inhaltlich näher hierauf einzugehen. Interessant ist aber, dass die Habilitationsschrift „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“ (1911) in Ansätzen bereits am Ende der Studienzeit Kelsens in Angriff genommen wurde (S. 99 ff.)
Olechowski schildert auch die Heirat mit Margarethe Bondi, die ebenfalls jüdischer Abstammung ist und anlässlich der Hochzeit zum evangelischen Christentum übertritt, was auch Kelsen aus diesem Anlass tut (S. 113 ff.). Man erfährt bei dieser Gelegenheit, dass Grete Kelsen mit dem späteren Management-Lehrer Peter Drucker verwandt ist.
Lehrerfahrungen sammelt Kelsen an der damaligen Exportakademie, die heute die Wirtschaftsuniversität Wien ist, und an einem privaten Mädchengymnasium, sowie dann in der Volksbildung im von Sozialdemokraten initiierten „Volksheim“.
Mit Kelsens Habilitationsschrift setzt sich Olechowski ausführlicher auseinander – inhaltlich und beispielsweise auch hinsichtlich der Veröffentlichung durch den Tübinger Verlag J. C. B. Mohr (S. 127 ff.), und er beschließt den Abschnitt mit dem „Versuch einer Bewertung“ (S. 139 f.). Es folgen die Schilderungen des Habilitationsverfahrens und die Privatdozentenzeit Kelsens. Deutlich wird, dass man im Fall Kelsens eher nicht von einem Schüler-Lehrer-Verhältnis zu seinem Erstkorrektor Edmund Bernatzik sprechen kann. Anders erscheint dies im Falle von Kelsen selbst als Lehrer. Olechowski schildert, dass Kelsens wichtigster Schüler Adolf Julius Merkl schon früh den Weg zu Kelsen fand (S. 145 ff.) und berichtet auch von dem entstehenden Privatseminar Kelsens in dessen jeweiliger Wohnung in Wien. Die Entstehung der Wiener Rechtstheoretischen Schule wird dargestellt.
Geschildert wird Kelsens Rolle bei der Gründung und Herausgabe der Österreichischen Zeitschrift für öffentliches Recht (S. 161 ff.) und ihrer Nachfolgerin, der Zeitschrift für Öffentliches Recht.
Kelsens Verhältnis zur österreichischen Sozialdemokratie wird ausführlich dargestellt (S. 178 ff.), wovon hier nur berichtet werden soll, dass Kelsen niemals Parteimitglied wurde. Berichtet wird auch der allmähliche Aufstieg innerhalb der Wiener Fakultät und die gescheiterte Berufung nach Graz und sodann die Tätigkeit für den Kriegsminister von Stöger-Steier als staatsrechtlicher Berater während des Ersten Weltkriegs und über dessen Ende ein wenig hinaus (S. 195 ff.) Der Aufstieg als Universitätslehrer in Wien und sodann die Übernahme des Ordinariats nach dem Tod Bernatziks ist ein durchgehendes Thema, auch die Bestellung zum Richter am neuen Verfassungsgerichtshofs wird geschildert (S. 255 ff.)
Mehrfach wird Kelsen als Anhänger eines Anschlusses von Deutsch-Österreich an das Deutsche Reich nach dem Ersten Weltkrieg, der mit dem Zusammenbruch der Donaumonarchie Österreich-Ungarn zu sehen ist, geschildert (z. B. S. 249). Auch Kelsens Tätigkeit als staatsrechtlicher Gutachter für die neue Republik wird ausführlich dargestellt.
Der Entstehung des Bundes-Verfassungsgesetzes und Kelsens Rolle als Entwurfsverfasser und Berater ist ein eigenes Kapitel gewidmet (S. 271 ff.) Deutlich wird hier, dass Kelsen nicht „der“ Schöpfer der Bundesverfassung war.
Kelsen habilitiert in Wien insgesamt sieben Schüler, darunter neben Merkl auch der bekannte Völkerrechtler Alfred Verdross (vgl. S. 307 ff.).
Die „Allgemeine Staatslehre“ als wichtiges Werk Kelsens (1925) wird ausführlicher referiert, und auch der zunehmende „internationale Ruhm“ bei gleichzeitigen Anfeindungen in der Heimat (S. 385 ff.), was im Kontext eines Streits um die so genannten Dispensehen und im Zuge der allmählichen Herausbildung des autoritären Staates – Olechowski spricht hier ausdrücklich von einer „Umpolitisierung des Verfassungsgerichtshofs“ (S. 472 ff.) – zu einem Verlust des Richteramts führt. Auf einem Parteiticket der Sozialdemokraten hätte Kelsen wohl weiter im Gericht bleiben können, lehnt dies aber ab, wie Olechowski schildert.
Es folgt die Schilderung des Wechsels Kelsens an die neu errichtete Universität Köln und den Aufbau eines neuen Instituts für Völkerrecht (S. 481 ff.). Man erfährt hier mehr über die Entstehung der Kölner Hochschule als beispielsweise im ersten Band der Adenauer-Biographie von Hans Peter Schwarz, doch auch hier findet der damalige Oberbürgermeister Adenauer mehrfach Erwähnung.
In dieser Zeit setzt sich Kelsen auch streitig mit Smend und Schmitt auseinander, was Olechowski darstellt, einschließlich des einen gemeinsamen Semesters mit Schmitt in Köln. Nach der „Machtergreifung“ der Nazis Anfang 1933 wird auch die Universität Köln „gleichgeschaltet“ Interessant ist, dass Olechowski nachweisen kann, dass ausgerechnet diese Hochschule es in diesem Prozess offenbar besonders eilig hatte (S. 553 f.).
Kelsen wechselt nun an eine Akademie des Völkerbundes in Genf, eine Institution, die uns der Autor damit zugleich näherbringt (S. 571 ff.).
Noch interessanter ist fast das folgende Kapitel, das als „Das Prager Gastspiel“ bezeichnet wird (S. 599 ff.), worin die kurzzeitige Professur an der deutschen Universität Prag von 1936 bis 1938, wo der dort wohl noch stärkere Antisemitismus als in Wien geschildert wird. Danach erfahren wir mehr von der Arbeit Kelsens für den Völkerbund und seiner kurzfristigen Rückkehr nach Genf, bevor 1940 die Migration in die USA erfolgt (S. 637 ff.).
Im vierten Teil werden die Schwierigkeiten des Emigranten geschildert, der jahrelang von einer kurzfristigen Dozentur zur anderen wandelt und dabei auf Unterstützung namentlich der Rockefeller Foundation angewiesen ist (S. 673 ff.). Kelsens Tätigkeit für die Roosevelt Administration wird berichtet (S. 728 ff.).
Wir lernen etwas über das amerikanische Hochschulsystem und namentlich etwas über das private Harvard und das öffentliche Berkeley, wo Kelsen schließlich zum Ende des Zweiten Weltkriegs für sieben Jahre full professor wird (S. 761 ff.). Geschildert werden die zahlreichen Vortragsreisen nach Südamerika und Europa, und natürlich auch die weiteren Werke, wobei die zweite Auflage der „Reinen Rechtslehre“ (1960) ausführlich mit der ersten (von 1934) verglichen wird (S. 873 ff.).
Alles in allem können wir sagen, dass Olechowski und sein Team nicht nur das wechselvolle Leben eines großen Rechtsgelehrten schildern, sondern wie angekündigt auch den Wandel der Verhältnisse namentlich in Europa
Wissenschaftliche Kontroversen werden geschildert, aber auch der Wandel im Werk Hans Kelsens, der philosophisch insgesamt dem Neukantianismus zugeordnet wird. Die Wirkungen des Antisemitismus, aber auch die kritische Haltung gegenüber Kelsen wegen seiner Reichsuntergangsthese von 1944 werden sichtbar. Im Gegensatz zu Smend oder Schmitt hatte sich in Deutschland keine eigene Kelsen-Schule herausgebildet. Die Freunde seiner Lehre und seines Andenkens in aller Welt haben nun aber ihr ultimatives Nachschlagewerk erhalten.
Thomas Olechowski, Hans Kelsen. Biographie eines Rechtswissenschaftlers, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2020, 1027 S., 59 Euro (ISBN 978-3-16-159292-8)