Der Jugoslawe

40 Jahre nach dem Tod Josip Broz´ erhält „Tito“ eine biographische Würdigung in Deutschland

Matthias Wiemers

Es war Ende der 1970er Jahre, als ich begann, TV-Berichterstattungen in Form der üblichen Nachrichtensendungen wahrzunehmen. Da war auch mal von einem „Tito“ die Rede. Natürlich weiß ich heute nicht mehr, ob das schon die Nachricht seines Todes war. Ansonsten bekam man mit, dass Leute aus unserem Dorf Urlaub in Jugoslawien machten. Dass dies im „Ostblock“ lag, nahm man damals noch nicht so wahr.
Die Münchner Historikerin Marie-Janine Calic, sie lehrt Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU, hat nun eine recht knappe, aber gut lesbare Biographie von Josip Broz vorgelegt, der in seinem langen Leben das Jugoslawien, das praktisch mit dem „Eisernen Vorhang“ untergegangen ist, überhaupt erst hervorbrachte. Wer wie der Rezensent, der genau in der Zeit des jugoslawischen Bürgerkriegs studierte, die zugleich schrecklichen und ermüdenden Dauernachrichten hierüber noch im Gedächtnis hat, stellt sich vor, dass mit der weltpolitischen Wende wohl eine Art Korken von der Flasche gesprungen sein muss. Und der, der diesen Korken in die Flasche gestopft hat, mußte wohl Tito sein. Mit dieser Erwartung las ich diese Biographie, die dem Leser auch in groben Zügen die Entwicklung des jugoslawischen Staatswesens seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg berichtet.
Die Autorin bildet die Kapitelüberschriften immer derart, dass sie einen Ort, einen treffenden Titel und ein konkretes Datum nennt. Beim ersten Kapitel lautet dies „Krumrovec, 7. Mai 1892, Der Bauernsohn“. Dies ist eindeutig im Hinblick auf Geburtsdatum und -ort des Protagonisten, in späteren Kapiteln ist dies menschmal nicht so eindeutig nachzuvollziehen. Hier lernen wir, dass Tito als Josip Broz als Sohn einer armen kroatischen Bauernfamilie in der Nähe von Zagreb geboren wird, wobei die Mutter Slowenin ist und 15 Kinder gebiert, von denen nur sieben überlebten. Die Familie lebte unter dem Joch der Ungarn, so lernen wir.
Wir lernen auch, wie der junge Josip eine Schlosserlehre in der Provinzstadt Sisak absolviert und hierbei auch politisiert wird. Josip geht auf die Walz und sucht auch eine feste Anstellung. Dann kommt der Erste Weltkrieg, wo Broz in der österreichisch-ungarischen Armee den Krieg mitmacht und auch schwer verwundet wird. Die Autorin schildert, wie Broz politisch weiter radikalisiert wird und im Umfeld der russischen Revolution 1917 desertiert, gefangen genommen wird und dann zu den Bolschewisten gelangt. Nach Rückkehr in die Heimat findet er die Mutter verstorben, den Vater verzogen, und nun leitet Calic über zu einer Darstellung der Verhältnisse, die zur ersten Gründung der Tschechoslowakei führen. Nach dieser knappen Darstellung wird über das Leben Broz´ als Handwerker und politischer Agitator berichtet. Josip Broz ist nun Bolschewist/Kommunist geworden.
Das dritte Kapitel ist dann gleich mit „Der Revolutionär“ überschrieben. Es setzt im Jahre 1928 ein. Dort wird über eine mehrjährige Gefängnisstrafe des führenden Mitglieds der illegalen Kommunistischen Partei berichtet – und auch der Nom de Guerre: „Tito“ wird geboren.
„Parteiarbeiter der Komintern“ zeigt an, dass Broz danach nach Moskau geht, wo er im berühmt-berüchtigten „Hotel Lux“ mit seinen 500 Zimmern lebt und ansehen muss, wie nicht nur viele Genossen, sondern auch seine damalige Frau abgeführt und hingerichtet werden.
Calic schildert im nächsten Kapitel – „Der Partisanenführer“ Titos Rolle als Verteidiger Jugoslawiens gegen Hitler-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. In diesem Zusammenhang wird auch geschildert, wie man beschließt, Tito zum Marschall zu machen – schon um ihm die Möglichkeit zu eröffnen, auf Augenhöhe mit den Allierten verhandeln zu können.
Dem folgt ein Kapitel über den „Staatsgründer“, was schon während des Krieges einsetzt.
Ebenso noch vor Kriegsende setzt das nächste Kapitel ein: „Der stalinistische Autokrat“. Wir lernen, wie es Tito gelingt, sich in dem hochkomplexen Gemisch von Volksgruppen und Kräften als Stimme Jugoslawiens zu etablieren, der mit den Alliierten spricht und für Jugoslawien entscheidet.
Aus Tito wird in den Augen von Marie-Janine Calic sodann „Der Abtrünnige“. Hier schildert sie anschaulich, wie sich Tito von Stalin absetzt und sich letztlich zwischen den beiden Großmächten etabliert. Dies wird etwa anhand der Triest-Frage verhandelt bzw. der Frage, wohin künftig das Gebiet Dalmatien und Istrien gehören sollen (übrigens ein Thema, das Veit Heinichen in seinen Triest-Krimis immer wieder variiert.).
In Bezug auf Ungarn sprach man in der alten Bundesrepublik oft von „Gulaschkommunismus“, um die besondere Art der Ausprägung des östlichen Blocksystems zu kennzeichnen. Bei Calic lernen wir, dass der eigentlich wirklich Besondere an den osteuropäischen Führungsfiguren Tito mit seinem Jugoslawien gewesen sein muss. „Der Reformkommunist“ ist das Kapitel überschrieben, das vor allem den wirtschaftlichen Aufschwung Jugoslawiens in den 1950er Jahren zeigt, parallel zu Reformen auch in der Staats- und Parteiorganisation.
Das Lavieren zwischen den Großmächten und damit zwischen den „Blöcken“ ist nochmal vertieft Gegenstand des Kapitels „Der Weltbürger“, worin Tito als Erfinder und Motor der Bewegung der Blockfreien geschildert wird (besonders lesenswert: die Schilderung der Reise mit Titos Jacht nach Afrika im Jahre 1961 (S. 295 ff.).
In „Der Richter und Schlichter“ zeigt Calic noch einmal auf, wie fragil das Machtgebilde im Vielvölkerstaat Jugoslawien auch zu Lebzeiten Titos bleibt und wie er versucht, zentrifugale Kräfte auszuschalten.
Der Band schließt mit den Kapiteln „Der Elder Statesman“, worin die Verfilmung von Titos Rolle als Partisanenführer mit Richard Burton in der Hauptrolle geschildert wird, und „Nach Tito: Tito!“, worin Titos Tod und das sich anschließende Kämpfen um die Deutungshoheit hinsichtlich seiner Bedeutung geschildert werden.
Alles in allem wird deutlich, dass das über Jahrzehnte bestehende Jugoslawien ohne Josip Broz nicht denkbar ist – aber wohl auch nicht das, was nach dem Zusammenbruch des Ostblocks geschah und nach der Schilderung der Autorin mindestens 100.000 Todesopfer forderte.
Selbstkritisch sollten allerdings wir, die wir in einem parlamentarisch-demokratischen System leben, das von der stets gegebenen Möglichkeit des Regierungswechsels gekennzeichnet ist, bedenken, dass auch dieses nicht für die Ewigkeit errichtet ist. So kann uns vielleicht das Wirken und Scheitern eines Autokraten auch Hinweise für die Zukunft unseres Systems geben.
In jedem Fall: sehr lesenswert!

Marie-Janine Calic
Tito: Der ewige Partisan
C.H. Beck 2020
442 Seiten; 29,95 Euro
ASIN: B08FY33GGK

Veröffentlicht von on Apr 19th, 2021 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

Hinterlassen Sie einen Kommentar!