Wünsche

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

sollte man jemandem wünschen, dass alle seine Wünsche in Erfüllung gehen? Oder sollte man sich so etwas womöglich sogar für sich selbst wünschen? In allen früheren Epochen der Menschheitsgeschichte hätte wohl beinahe jeder darauf geantwortet: „Warum denn nicht? Was könnte es Schöneres geben?“ Aber im Hier und Jetzt ist das zumindest ein zweischneidiges Schwert geworden…

In meiner Kindheit und Jugend in den Siebziger- und Achtzigerjahren hatte ich vor allem einen ganz großen, übermächtigen Wunsch. Aber der war leider völlig unrealistisch. Ich wünschte mir so sehr, dass mein geliebter FC Hansa Rostock eines Tages DDR-Fußball-Meister werden würde. Doch wie hätte dies geschehen können? Damals spielten in den Clubs (im Osten sagte man nicht Vereine) grundsätzlich nur die besten Spieler der jeweiligen Region. Clubwechsel gab es nur gelegentlich in Richtung der fünf regelmäßig in den internationalen Wettbewerben spielenden Spitzenclubs (BFC Dynamo, Dynamo Dresden, 1.FC Lok Leipzig, 1.FC Magdeburg und FC Carl Zeiss Jena) und ansonsten nur in äußerst seltenen Fällen, so dass wohl die meisten Spieler ihr Leben lang in der selben Mannschaft spielten. Aber wie hätte man aus dem dünn besiedelten Norden „unserer Republik“ (wie damals gesagt wurde) jemals genug hochkarätige Spieler rekrutieren können, um den Spitzenclubs des Landes das Wasser reichen zu können? Tatsächlich war „mein“ FC Hansa – bis 1963 spielte er unter dem Namen SC Empor – auch noch niemals DDR-Meister geworden. Nie hätte ich es also für möglich gehalten, dass mein unbescheidener Wunsch schon wenige Jahre später in Erfüllung gehen sollte.

Nach dem Mauerfall ging nämlich plötzlich alles ganz schnell. Ein Trainer aus dem Westen wurde nach Rostock geholt, der den bestehenden Kader behutsam mit ein paar Westspielern sowie einem Polen und einem Tschechen ergänzte, und diese Truppe gewann dann tatsächlich die Meisterschaft. Nur, dass es zu diesem Zeitpunkt gar keine DDR mehr gab. Stattdessen berechtigte der erste Platz in der letzten DDR-Oberliga-Saison nur noch zum – immerhin – direkten Aufstieg in die nunmehr gesamtdeutsche Bundesliga. Nicht schlecht zwar, aber doch nicht ganz das gleiche wie eine „wirkliche“ Meisterschaft. Und so hatte dieser große Triumph für mich auch einen leicht bitteren Beigeschmack. So kann es also kommen, wenn die eigenen Wünsche sich einzig an den Kategorien der Gegenwart ausrichten und nicht in Betracht ziehen, wie rasant die Welt sich ändern kann…

Ebenso drastisch wurde auch so manchem meiner späteren Wünsche durch den technischen Fortschritt gleichsam der Boden unter den Füßen weggezogen. Es muss wohl Anfang der Neunzigerjahre gewesen sein, als ich mich in einem farbenprächtig glitzernden CD-Geschäft befand und sehnsüchtig die CD-Hüllen durch meine Finger gleiten ließ. So viele dieser wunderbaren Klangscheiben hätte ich so gerne besessen, aber leider waren allerhöchstens ein bis zwei CD-Käufe im Monat drin. Noch mehr Geld für dieses Hobby aufzuwenden, wäre mir als gewissenlose Verschwendung meiner Ressourcen erschienen. Und auch zu dieser Zeit hätte ich nie gedacht, dass nur wenige Jahre später große Mengen aller Musikrichtungen kostenlos auf Sharing- Plattformen zu haben sein würden. Und noch ein paar Jahre später sogar noch weitaus mehr und vollkommen legal auf YouTube. Aber auch hier ergibt sich ein bitterer Beigeschmack daraus, dass die eigene Lebenszeit niemals ausreichen wird, um sich all der fabelhaften und nun gratis verfügbaren Musik gebührend widmen zu können. Ganz abgesehen davon, dass ein rein digitaler Musikgenuss ohne damit verbundenen Tonträger mir bis heute nur eingeschränkte Freude bereiten kann, denn im tiefsten Inneren erscheint es mir als kulturlos und barbarisch, Musik zu hören, ohne dabei etwas hübsch gestaltetes Dazugehöriges in der Hand zu halten, weshalb ich wohl bis zu meinem Lebensende ein leidenschaftlicher Jäger und Sammler von Tonträgern bleiben werde…

Und ganz ähnlich wie mit der Musik verhält es sich ja auch mit der Literatur und mit Büchern, um von den Freuden der Erwachsenenunterhaltung gar nicht erst zu reden. Wo man einst auf den einen oder anderen heiß begehrten Gegenstand fixiert war und allerhand Entbehrungen auf sich nahm, um ihn zu erlangen, verhungert man heute regelrecht in der Fülle, die sich kaum noch bewältigen lässt.

Vielleicht, so denke ich mir manchmal, ist es ja auch gut, wenn sich nicht jeder Wunsch erfüllt, zumindest nicht sofort, sondern erst nach einer langen Zeit des Hoffens, Sehnens und Bangens…

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Mai 3rd, 2021 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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