Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
endlich hat es mal einer gesagt. Schon seit langen Jahren müssen sich Fußballspieler von Sportjournalisten belanglose bis unverschämte Fragen stellen lassen nach dem Motto: „Was war das für ein Gefühl, als Sie den Ball neben das Tor geschossen haben??“ Und nun hat vor kurzem endlich einmal ein beherzter Spieler den Spieß umgedreht und den Journalisten zurückgefragt, was das denn eigentlich für eine „Scheiß-Frage“ sei. Gut gemacht. Auch als fürstlich entlohnter Medienstar muss man sich schließlich nicht jede Erniedrigung gefallen lassen. Andererseits ist es aber auch aus Journalistenperspektive gar nicht so einfach, sich immer neue Fragen auszudenken, um Fußballspielern, die den Medienvertretern beinahe rund um die Uhr Rede und Antwort stehen müssen, noch irgendetwas Originelles zu entlocken.
Was die Jüngeren dabei allerdings nicht wissen können, wir Älteren hingegen oftmals noch ziemlich gut im Gedächtnis haben, ist, dass es auch mal andere Zeiten gegeben hat, in denen Statements von Fußballspielern ein rares Gut gewesen sind. Und zumindest fußballerisch gesehen, waren das keineswegs die schlechtesten Zeiten… Als jugendlicher Fan war man ja immer begierig darauf, einmal einen Original-Kommentar seiner Idole zu erhaschen, aber in jenen fernen Zeiten war das einfach nicht vorgesehen. Im Westen immerhin gab es das auch vor vierzig Jahren, als meine Fußballleidenschaft gerade erwacht war, zumindest schon ansatzweise, wenn auch längst nicht in den heutigen Dimensionen. Aber im Osten? Kein Wort erfuhr man normalerweise darüber, wie sich die Fußballer in dieser oder jener Situation des Spiels wohl gefühlt hätten oder wie sie das Geschehen kommentieren würden. Nur ganz ausnahmsweise, zu wirklich ganz besonderen Anlässen, kam auch mal ein Spieler zu Wort. Aber dann so gut wie nie im Fernsehen oder Radio, sondern nur in der Zeitung. Solche seltenen Interviews waren dann in der Tat sehr aussagekräftig. Man merkte ihnen an, wie gründlich vorbereitet und durchdacht sie waren. Nur leider blieb in ihnen alles ausgespart, was irgendwie heikel war oder auch nur heikel hätte sein können. Kritik an Schiedsrichterentscheidungen war tabu, an Trainern oder Klubleitungen natürlich ebenfalls. Irgendwelche Gerüchte? Durften niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Dafür war das sprachliche Niveau solcher Interviews – wie das der Sportberichterstattung in der DDR überhaupt – überragend, sowohl im Vergleich zum Westen in jener Zeit als auch – erst recht – im Vergleich zur heutigen Zeit! So entstand bei mir als Kind damals der Eindruck, dass Fußballspieler besonders reflektierte Menschen sind, die sich sehr gewählt ausdrücken können. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass die Sportjournalisten dabei nicht unerheblich nachgebessert haben könnten… Insofern war es dann für mich ein gewisser Schock, als ich nach dem Mauerfall plötzlich regelmäßig Interviews mit meinen früheren Idolen hören, sehen und lesen konnte, in denen sich diese dann so ausdrückten, wie Fußballspieler sich nun einmal auszudrücken pflegen… Hätten sie nur weiter geschwiegen, dann hätten sie noch länger und womöglich dauerhaft meinen Idealisierungen entsprochen…
Dein Johannes