Eine Geschichte aus der Schulzeit
Thomas Claer
Vor 60 Jahren und drei Tagen hat die DDR die Berliner Mauer errichtet. Vor fast 50 Jahren bin ich hinter dieser Mauer in der DDR geboren worden. Und vor ca. 40 Jahren, so ganz genau kann ich es nicht mehr sagen, jedenfalls muss ich wohl damals in der 3. oder 4. Klasse gewesen sein, wäre mir ein ikonisches Schwarzweiß-Foto vom Mauerbau beinahe zum Verhängnis geworden. Es war in unserem Heimatkunde-Buch abgedruckt und zeigte vier uniformierte Männer mit sehr entschlossenem Gesichtsausdruck, die jeweils ihren Finger am Abzug ihrer bedrohlich großen Gewehre hatten. Vor allem aber standen sie direkt vor dem Brandenburger Tor und schienen dieses zu bewachen. Es waren, wie die unter dem Bild stehende Beschriftung verriet, keine Soldaten, sondern Angehörige der „Kampfgruppen“, einer zusätzlich rekrutierten, heute würde man vielleicht sagen: paramilitärischen Einheit neben Polizei und Armee, die dort im Einsatz waren und – wie uns von unserer Lehrerin eingeschärft wurde – heldenhaft die Staatsgrenze unserer Deutschen Demokratischen Republik gegen westliche imperialistische Provokateure verteidigten.
Tatsächlich habe ich dieses Bild sofort wiedererkannt, als es vor einigen Tagen in einer Rückblende im „Heute Journal“ gezeigt wurde. Und es war auch gar nicht schwer, es aus dem Internet zu fischen. Wenn ich es heute, mit so großem zeitlichen Abstand, noch einmal betrachte, dann wirft es bei mir allerdings Fragen auf, die ich mir früher begreiflicherweise nie gestellt habe. Auf welcher Seite des Brandenburger Tores stehen diese Kampfgruppen denn eigentlich? Und auf wen richten sie ihre Gewehre? Entweder stehen sie auf der Ost-Seite und drohen der eigenen fluchtwilligen Bevölkerung, dann wäre das Bild aber ein grandioses propagandistisches Eigentor gewesen… Oder sie stehen auf der West-Seite und drohen dem Westen. Aber dann würden sie doch noch hinter den ganzen östlichen Grenzschutzanlagen stehen, und wie konnte überhaupt ein Fotograf auf dieses verminte Gelände gelangen?
Damals, als Dritt- oder Viertklässler, lagen mir solche Überlegungen natürlich noch fern. Und es hatte auch ganz bestimmt keinen politischen Hintergrund, dass ich frecherweise den Männern auf diesem Foto während des langweiligen Unterrichts mit dem Bleistift Bärte und Brillen gemalt hatte. (Schon seinerzeit hatte ich offenbar eine besondere Vorliebe für die kreative Bearbeitung von Fotomaterial…) Woraufhin unsere überaus strenge und politisch ultra-linientreue Klassenlehrerin ein riesiges Fass aufmachte, so dass ich gar nicht mehr wusste, wie mir geschah. Entrüstet und bebend vor Zorn hielt sie das Heimatkunde-Buch mit meiner Foto-Collage vor der Klasse in die Höhe, machte dabei ein angewidertes Gesicht und schimpfte mit schneidender Stimme, dass ich diese Männer, die heldenhaft unseren Sozialismus verteidigten, ins Lächerliche zöge und wie ich mich nur erdreisten könnte. Dabei hatte ich mir wirklich überhaupt nichts dabei gedacht. Erschrocken griff ich nach meinem Radiergummi und wollte meine Verunzierungen der Helden schnell wieder beseitigen, aber so leicht kam ich natürlich nicht davon.
Wie immer, wenn jemand von uns etwas ausgefressen hatte, forderte unsere Lehrerin die anderen Schüler auf, dazu Stellung zu nehmen. Und natürlich nutzten einige meiner Mitschüler die Gelegenheit, um sich von meiner abscheulichen Tat aufs Schärfste zu distanzieren. Nachdem ich mich dann aber auch noch kleinlaut für meinen bedauerlichen Fehltritt entschuldigt hatte, war die Sache zum Glück für mich erledigt. Es hätte auch schlimmer für mich ausgehen können. Andere hatten sich für vergleichbar geringfügige Verfehlungen auch schon mal einen Tadel eingehandelt.