Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
so spannend wie diese ist wohl noch keine der 19 Bundestagswahlen zuvor in den vergangenen 72 Jahren gewesen. Noch vor wenigen Wochen lag die Kandidatin der Grünen in den Umfragen vorne, dann zog der Kandidat der Union an ihr vorbei, und nun hat sich tatsächlich der SPD-Kandidat, den niemand mehr auf der Rechnung hatte, an die Spitze gesetzt. Dabei hat er eigentlich gar nichts Besonderes dafür getan, sondern nur von den Fehlern seiner beiden Konkurrenten profitiert. Zuerst hat die Grünen-Kandidatin alles versemmelt, indem sie in ihrem Buch ein paar Zitate nicht richtig gekennzeichnet und ein paar Stationen ihres Lebenslaufs zu sehr aufgeblasen hat. Danach hat der Unionskandidat auf einer Gedenkstunde wegen der Überflutungen an einer unpassenden Stelle gelacht und ist seitdem in allen Umfragen abgestürzt. Es ist schon verrückt, dass solche Lappalien, die vermutlich vor ein paar Jahrzehnten niemanden interessiert hätten, aber heutzutage ohne Ende in den sozialen Medien weiterverbreitet und skandalisiert werden, darüber entscheiden, wer künftig unser Land regiert. Wenn überhaupt, dann ließe sich doch ein wirkliches fachliches Fehlverhalten höchstens dem SPD-Kandidaten vorwerfen, weil er als Finanzminister und früher als Hamburger Bürgermeister bei diversen Finanzschummeleien offenbar seiner Aufsichtspflicht nicht hinreichend nachgekommen ist. Aber das ist ja schon längere Zeit bekannt und daher wohl mittlerweile bei den Wählern auch weitgehend in Vergessenheit geraten.
Allerdings zeigt sich darin exemplarisch, wie demokratische Wahlentscheidungen so zustande kommen. Es mag ja auch ein paar Leute geben, die sich für die Inhalte interessieren, die mühsam die Programme der Parteien vergleichen und die Fragen vom Wahl-o-mat beantworten. Aber die meisten gucken sich doch wohl hauptsächlich die Köpfe der Kandidaten an. Und wenn ihnen einer gefällt und dann noch einen irgendwie kompetenten Eindruck macht, dann findet offenbar auch sein Parteiprogramm beim Wähler Zustimmung. Denn wie sonst lässt es sich erklären, dass noch vor einigen Wochen die Mehrheit der von den Instituten Befragten das Programm der einen Partei am überzeugendsten fand, nun aber plötzlich das Programm jener anderen Partei, deren Kandidat nicht durch solche medienwirksamen Fehltritte aufgefallen ist?
Natürlich gibt es wissenschaftliche Studien, die zum Ergebnis kommen, dass die Wähler sich bei ihrer Stimmabgabe in erster Linie nach Inhalten und nicht nach Personen richten. Das liegt daran, dass die Wähler genau das angeben, wenn man sie danach fragt. Es ist aber nicht so. Vielmehr gucken die Leute in erster Linie darauf, wer irgendwie klug daherredet und dabei einen vertrauenswürdigen Eindruck macht. Und wenn das passt, dann wird wohl auch das Programm der dahinterstehenden Partei schon irgendwie in Ordnung sein, denken sie. Wobei vermutlich ein signifikanter Anteil der Wähler sich gar nicht erst die Mühe macht, den Kandidaten auch nur zuzuhören, sondern sich von Kurzmeldungen wie „Partei X ist im Aufwind“ oder „Partei Y sackt immer weiter ab“ beeinflussen lässt. Wenn überhaupt. Wer hingegen ein tiefergehendes Interesse an Politik und gewisse Grundüberzeugungen mitbringt, der wird in aller Regel schon wissen, wen er wählen wird, und sich darin durch das ganze mediale Affentheater nicht weiter beirren lassen. Außer natürlich, er oder sie wählt taktisch.
Das taktische Wählen hat hierzulande schon deshalb eine so immense Bedeutung, weil man ja am Ende beinahe niemals die Alleinregierung einer Partei bekommt, sondern fast immer eine bestimmte Koalition, bei der sich die Vor- und Nachteile der sie bildenden politischen Kräfte dann idealerweise neutralisieren. Deshalb hört, wer politisch interessiert ist, in den Politikerreden und -statements auch nicht unbedingt zuerst auf die Inhalte, sondern vielmehr auf die zumeist mehr oder weniger subtilen Signale, mit wem die Betreffenden nach der Wahl wohl am liebsten zusammenregieren würden und mit wem lieber nicht. Und wenn man einerseits nach Gesinnung wählt, andererseits aber auch ein Stück weit nach persönlichem Interesse, dann gilt es bei der Wahlentscheidung noch Weiteres zu berücksichtigen: Auch wenn man z.B. grundsätzlich für eine bestimmte Partei ist, sollte diese doch auf keinen Fall stärkste Kraft werden, weil sie dann neben vielen sehr guten Projekten auch etwas reformieren würde, das einem selbst, wenn es wegfiele, so richtig wehtäte. Und sogar noch viel schlimmer wäre es, wenn diese Partei dann mit einer anderen kleinen Partei koalieren müsste, die hierin noch viel weiter gehen möchte. Stattdessen wünscht man sich dann inbrünstig als künftigen Koalitionspartner eine inhaltlich entgegengesetzte kleine Partei, die man eigentlich verabscheut und niemals als stärkste Kraft geschweige denn alleine an der Regierung sehen will (und deren Spitzenkandidat einem über alle Maßen unsympathisch ist), die als Regierungspartner aber zuverlässig bestimmte Auswüchse zu verhindern hülfe, die eine Regierung der von einem selbst eigentlich favorisierten Kräfte leider mit sich brächte. Aber sollte man diese zwar ungeliebte, aber als Koalitionspartner so dringend benötigte kleine Partei deshalb gleich wählen?! Zu viel Gewicht möchte man ihr ja auf keinen Fall geben, nur gerade so viel, dass sie gewisse Übertreibungen der anderen Seite blockieren würde. Und außerdem kann es ja auch gut sein, dass diese ungeliebte und unsympathische Partei dann wieder verkündet, es sei besser nicht zu regieren als in ihren Augen falsch zu regieren, und stattdessen bekommt man eine Koalition, die man unter keinen Umständen gewollt hat… Womit die Aporien der Wahlentscheidung hier nur vorsichtig angedeutet wären. In Wirklichkeit ist es ja noch weitaus komplizierter…
Nun kann man sich allerdings fragen, ob ein solches Schaulaufen, Taktieren und Geschachere wirklich Ausdruck jener politischen Hochkultur ist, die zu sein wir ja mindestens stillschweigend fortwährend den Anspruch erheben, und wie berechtigt unser zumindest unterschwelliger Hochmut etwa gegenüber den von uns als rückständige Bombenleger- und Kopftuchfrauenvölker angesehenen Afghanen und Irakern ist, die eine stabile Demokratie wie die unsere schlichtweg nicht auf die Reihe kriegen. Wahrscheinlich hilft es ja schon, die eigenen allzu großspurigen Anspruchs- und Erwartungshaltungen ein wenig herunterzufahren und froh darüber zu sein, dass wir schon seit sieben (im Osten seit drei) Jahrzehnten Regierungswechsel ohne Gewaltausbrüche hinbekommen und sich grottenschlechte Regierungen ganz einfach mittels Kreuzen auf Stimmzetteln loswerden lassen. In diesem Sinne also: Auf zum Urnengang bzw. zum Briefkasten!
Dein Johannes