Kurt Cobain der Oberstufe?

Scheiben Spezial: 30 Jahre „Nevermind“ von Nirvana. Ein persönlicher Rückblick

Thomas Claer

Ende September 1991, vor dreißig Jahren, erschien die Platte „Nevermind“ der amerikanischen Grungerock-Band Nirvana mit ihrem Single-Hit „Smells Like Teen Spirit“, dessen Video, eine wilde kollektive Headbanging-Orgie, zu jener Zeit immer und immer wieder im Musikfernsehsender MTV gespielt wurde. Ich war damals 19 Jahre alt, Gymnasiast in Bremen und – was ganz wichtig war – ich hatte lange Haare und trug eine Lederjacke. Das war natürlich gutes Timing, denn bis einem die Haare so richtig lang gewachsen sind, dauert es ja schon mindestens zwei Jahre. Und nun, als sie also endlich lang genug waren, lief auf unseren Feten, wie wir unsere ausgelassenen Zusammenkünfte damals nannten, immerzu dieses Lied von Nirvana, und alle bewegten dazu heftig ihre Köpfe, und wer konnte, warf auch seine Haarmähne dabei wild durch den Raum. Ich jedenfalls konnte das – und erntete dadurch regelmäßig bewundernde Blicke meiner Altersgenossen, was ich auch immer sehr genoss.

Der Autor, 19- oder 20-jährig

Überhaupt war es damals ein großartiges Lebensgefühl für mich, so lange Haare zu haben. Schon morgens beim Aufwachen kam es mir vor, als ob mich mit den langen Haarsträhnen zugleich auch ein Gefühl von Freiheit umwehte. Dabei hatte ich natürlich von Kurt Cobain und Nirvana noch nichts ahnen können, als ich mich irgendwann zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung entschloss, die Haare von nun an einfach wachsen zu lassen. Es war wohl eher eine Art Protesthaltung, denn ich hatte das zu dieser Zeit nur noch seltene Glück, Eltern zu haben, die sich über so etwas aufregten. Während die superliberalen Eltern meiner Bremer Schulfreunde aus dem gehobenen Bürgertum es alle ganz prima fanden, dass meine Haare immer länger wurden, reagierte insbesondere mein Vater darauf mit Entsetzen. Na gut, wir waren Zugezogene aus dem Osten, da hatte es ja gewissermaßen kein 1968 gegeben. Und nun erlebte ich im freien Westen langhaarige Lehrer, die mir etwas über Rockmusik erzählten. Begeistert holte ich also für mich – gleichsam im Zeitraffer – die emanzipatorischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nach….

Darüber hinaus war mein neues Erscheinungsbild auch noch mit weiteren Vorteilen für mich verbunden. Offenbar wirkte ich nun endlich nicht mehr ganz so jung und kindlich, was bis dahin mein ständiges Problem gewesen war. Als ich mit zwei Freunden eine Disco besuchte, wurde ich vom Türsteher umstandslos hineingelassen, während er von meinem kurzhaarigen Freund S, der sogar ein Jahr älter war als ich, zur Kontrolle seiner Volljährigkeit den Ausweis verlangte. Ferner bemerkte ich, dass ich mit meiner immer länger werdender Haarpracht auch von den Mädchen ganz anders wahrgenommen wurde als zuvor. Was allerdings, wenn man so schüchtern war wie ich, noch nicht viel zu bedeuten hatte… Dennoch sehe ich mich, wenn ich heute mein Foto von damals betrachte, rückblickend fast schon als eine Art Kurt Cobain unserer Oberstufe. Es hat nur keiner gemerkt…

Ein verstörendes Erlebnis hatte ich aber dann doch, im berühmten Club „Lila Eule“ im Steintor-Viertel. Ich zögere noch etwas, ob ich das jetzt wirklich schreiben soll. Aber warum eigentlich nicht? Ich stand dort also eines Nachts nahe der Tanzfläche, als ein unbekanntes bildhübsches Mädchen direkt auf mich zukam, mich leidenschaftlich umarmte und sogleich stürmisch auf den Mund küsste. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, und leistete keinen Widerstand. Allerdings schien sie schon reichlich alkoholisiert zu sein, denn ihre Zunge schmeckte nach diversen hochprozentigen Getränken. Nach einiger Zeit hielt sie inne, sah mich durchdringend an und fragte mich: „Kaufst du mir einen Sekt?!“ Erschrocken wanderten meine Augen zur Preistafel über dem Tresen. Ein Glas Sekt kostete 3 DM. Oha, so teuer! Einen Moment lang überlegte ich. Dann sprang ich über meinen Schatten, sagte „Na gut“ und kaufte ihr das begehrte Getränk, das sie sich sofort in einem Zug sozusagen hinter die Binde kippte. Einen Moment später war sie verschwunden, als hätte sie sich in Luft aufgelöst. Es wäre auch aussichtslos gewesen, im dichten Gedränge der Umstehenden nach ihr zu suchen, um sie zur Rede zur Stellen. In diesem Augenblick habe ich mir geschworen: So etwas soll mir nie wieder passieren!!

Drei Jahre später war ich schon im zweiten Semester des Jura-Studiums und hatte nun keine Lust mehr auf lange Haare. Was ich aber nicht bedacht hatte: Mit meiner neuen Kurzhaarfrisur wirkte ich zu meinem Leidwesen gleich wieder ein paar Jahre jünger. Als in einem Supermarkt zum Jubiläum Sekt ausgeschenkt wurde, wollte ich mir auch ein Glas nehmen. Doch da fragte mich der Verkäufer streng: „Bist du überhaupt schon 18? Zeig mal deinen Ausweis!“ Hastig zog ich mein Portemonnaie aus der Tasche. Da bemerkte ich, dass ich, warum auch immer, meinen Ausweis nicht dabei hatte. Mein Gott, wie peinlich! Ich wollte vor Scham im Erdboden versinken! „Haha“, lachte der Verkäufer. „Wir schenken nämlich keinen Alkohol an Minderjährige aus.“ Dabei war ich schon 22 und konnte es nur nicht beweisen. Was für eine Demütigung! Hätte ich meine Haarpracht doch nur länger behalten, dachte ich. Doch sie kam auch später nie wieder zurück.

Veröffentlicht von on Sep 27th, 2021 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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