Geschichte und Eigenarten einer interessanten Stadt
Matthias Wiemers
Eins vorweg: Was genau in dem neuen Roman von Veit Heinichen passiert, wird nicht verraten. Das wäre langweilig für den Leser, und es scheint mir auch sinnvoller, allgemein auf das kriminalliterarische Werk von Veit Heinichen einzugehen.
Es mag nun zwei oder drei Jahre her sein, dass mir durch Zufall antiquarisch der Titel „Tod auf der Warteliste“ in die Hände kam – obwohl ich selten Belletristik lese und erst recht für Krimis eigentlich keine Zeit (mehr) habe. Ich fand dann aber das Thema recht interessant und vor allem auch die Stadt Triest, in dem der Roman spielt. Sukzessive erwarb ich dann alle weiteren Romane über den aus Salerno in Süditalien stammenden Kommissar Proteo Laurenti. Just zu „Tod auf der Warteliste“ und vier anderen Titeln hatte es vor etwa 15 Jahren eine Serie in der ARD gegeben – mit dem wunderbaren Henry Hübchen in der Titelrolle des „Commissario Laurenti“.
Was zeichnet die Romane aus? Ich würde nicht sagen, dass Heinichen ein begnadeter Schriftsteller ist. Allerdings scheint er ein Bonvivant zu sein, was sich namentlich aus ausführlichen Darstellungen von Essen und Trinken in allen Romanen ergibt. Nicht nur Laurenti, sondern auch Heinichen ist Stammgast in der „Gran Malabar“ an der Triestiner Piazza San Giovanni, die in dem Roman „Die Zeitungsfrau“ auch eine gewisse Rolle spielt.
Der Leser der Romane wird unterhalten mit einer modernen Familie Laurenti mit drei erwachsenen Kindern (Frau arbeitet, Kinder sind nicht verheiratet und wechseln öfter mal die Jobs, Schwiegermutter wird zuhause aufgenommen.) und einer beruflichen Umgebung des Kommissars mit wechselnden Akteuren, aber auch Kontinuitäten. Die etwas strapazierte Figur des pensionierten Gerichtsmediziners Galvano wurde irgendwann durch die Erwähnung von dessen Tod aus dem Ensemble der Protagonisten genommen, die Dauer-Assistentin Marietta muss mindestens Mitte 50 sein, kleidet sich aber offenbar wie eine Zwanzigjährige. Und im neuen Roman taucht gar eine Sportwagen fahrende 95jährige auf – damit sie noch von der Vergangenheit erzählen kann, die in Triest anscheinend nicht vergehen will. Diesmal führen die historischen Bezüge in die Endphase des Zweiten Weltkrieges, als Triest als Teil der „Operationszone Adriatisches Küstenland“ 20 Monate zum Deutschen Reich gehörte (jüngst dies habe ich diesen Sommer im Rahmen einer Führung durch das „Kleine Berlin“ in Triest aus dem Munde des dortigen Fremdenführers erfahren). Und ja, der bekannte Obernazi Odilo Globocnik wurde tatsächlich 1904 in Triest geboren.
Die Romane sind unterhaltsam, mit überwiegend sympathischen Protagonisten und sprechen besonders Geschichtsinteressierte an. Das gesamte 20. Jahrhundert spielt in den Romanen eine Rolle, wenn die wechselvolle Geschichte Triests, das lange zu Österreich gehörte und nach dem Zweiten Weltkrieg von den Tito-Partisanen und dann von den Engländern und Amerikanern besetzt war, und nunmehr im Europa nach der EU-Osterweiterung irgendwie einen Mittelpunkt bildet, in immer neuen Variationen geschildert wird.
In diesem Jahr ist „Entfernte Verwandte“ erschienen, der elfte „Laurenti“ und der zwölfte Kriminalroman Heinichens insgesamt (Der Roman „Borderless“ von 2019 hat eine andere Protagonistin und spielt hauptsächlich im KuK-Seebad Grado, in der Nähe von Triest). Hier geht es um Rache und letztlich auch um die Perspektive des Betrachters von Geschichte.
Der jüngste Roman müsste im Jahr 2019 spielen, und Laurenti ist wohl 1953 oder 1954 geboren. Werden nicht die Italiener deutlich früher pensioniert als die Beamten in Deutschland? Wir dürfen gespannt sein, was sich Heinichen einfallen lässt, um beim nächsten Roman dem Leser die Erinnerung an Rolf Schimpf als „Der Alte“ im Wortsinne nicht aufkommen zu lassen.
Dennoch: Veit Heinichen ist mit Sicherheit der beste Botschafter Triests im deutschsprachigen Raum – und Triest nicht nur eine literarische Reise wert. Mindestens.
Veit Heinichen, Entfernte Verwandte. Commissario Laurenti ahnt Böses. Piper Verlag, München 2021, 318 S., 20 Euro