Der Meister der Systeme

Oder: Die besten Soziologen sind doch immer noch die Juristen

Deutsche Juristenbiographien, Teil 43: Niklas Luhmann (1927-1998)

Matthias Wiemers

Wer sich mit dem noch recht jungen Fach der Soziologie beschäftigt, kommt jedenfalls in Deutschland an Niklas Luhmann nicht vorbei. Er ist ein moderner Klassiker und in seiner Wirkmächtigkeit nur noch mit Max Weber zu vergleichen (wie wir natürlich auch wissen: ebenfalls ein „gelernter“ Jurist)

Niklas Luhmann ist ein Phänomen: Von ihm erscheinen Bücher, obwohl er bereits im Jahre 1998 verstorben ist. Jüngst erwarb ich von ihm „Die Grenzen der Verwaltung“, das 2021 als gebundenes Buch bei Suhrkamp erschienen ist und eigentlich auf einem Manuskript aus der Mitte der 1960er Jahre beruht. Die Herausgeber des Bandes, die auf dem Buchdeckel freilich nicht erscheinen, erklären die Entstehungsgeschichte in einem Anhang im Kontext. Dies ist nicht das erste und wird auch nicht das letzte Buch sein, das von Luhmann noch erscheinen wird. Der Nachlass ist ergiebig, und es finden sich Schüler und Forscher, die sich des Nachlasses annehmen.

Der jüngst erschienene Titel verweist uns sogleich auf die Anfänge der beruflichen Entwicklung von Niklas Luhmann, der 1927 in Lüneburg als Sohn eines Brauereidirektors geboren wird.
Nach amerikanischer Kriegsgefangenschaft, die der Luftwaffenhelfer von 1944 bis 1945 zu durchlaufen hat, nimmt er das Studium der Rechtswissenschaften in Freiburg auf, das einen Schwerpunkt im römischen Recht hat. Das Studium dauert von 1945 bis 49, und die Referendarausbildung erfolgte in der Heimat in Lüneburg. Parallel arbeitet Luhmann an einer öffentlich-rechtlichen Dissertation, die sich praktisch vollständig im Nachlass befindet. Die Arbeit wird aber nicht mehr eingereicht, da der Doktorvater Wilhelm Grewe ins Auswärtige Amt nach Bonn gewechselt ist. Der Titel der Arbeit über „Die Organisation beratender Staatsorgane“ greift die seinerzeit geführte Diskussion um einen Bundeswirtschaftsrat auf, die wiederum an die alte Verfassungseinrichtung eines Reichswirtschaftsrats in der Weimarer Republik anknüpft.

Von 1954 bis 1962 ist Luhmann als Verwaltungsbeamter in Lüneburg tätig, 1954 und 1955 am Oberverwaltungsgericht als Assistent des Präsidenten. 1995 erfolgt die Abordnung ins Niedersächsische Kultusministerium, wo er als Justiziar in der Zentralabteilung tätig war und vor allem für die Verhandlung zunächst abschlägig beschiedener Anträge auf Wiedergutmachung on Fällen von politisch motivierter Entfernung aus dem Schuldienst während des Dritten Reiches.

Aber auch im Ministerien stiegen offenbar die parteipolitischen Begehrlichkeiten, so dass Luhmann 1960 die Chance ergreift, im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums für zehn Monate im Rahmen eines verwaltungswissenschaftlichen Weiterbildungsstudiums nach Harvard zu gehen. Dort ist er wenig an dem theoretisch wenig ambitionierten Studium der Verwaltungswissenschaften interessiert, sondern an den Veranstaltungen des Department of Social Relations for interdisciplinary Social Science Studies und insbesondere denen von Talcott Parsons´, des seinerzeit führenden theoretischen Soziologen der USA.

Luhmann ist damals schon sehr an theoretischen Texten der Philosophie, der Wissenschaftstheorie, der Organisationswissenschaft, der Systemtheorie und der Kybernetik interessiert.
Nach der Rückkehr nach Deutschland übernimmt Luhmann 1962 eine Stelle an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, wo er Referent am Institut für Forschung und Information wird. In den Speyerer Jahren entstehen schon Gutachten und Einzelschriften zu verwaltungswissenschaftlichen und rechtspolitischen Fragstellungen, von denen eben jetzt eine in Buchform erschienen ist. Von 1965 bis 1968 leitet Luhmann dann die Sozialforschungsstelle der Universität Münster in Dortmund, die als ein Vorläufer der Bielefelder Universität gelten kann, an die Luhmann dann als Professor für Soziologie berufen wird. Auch wenn es namentlich in den 1970er Jahren durchaus üblich wird, Unhabilitierte zu Universitätsprofessoren zu berufen – etwa wenn sie zuvor an entsprechender Stelle in der Ministerialverwaltung saßen – hat Luhmann doch ordentlich promoviert. Nach nur einem Semester als Student der Soziologie in Münster eingeschrieben, wird Luhmann im Februar 1966 als Dr. der Sozialwissenschaften promoviert, und zwar unter Betreuung von Dieter Claessens und Helmut Schelsky. Mit der bei Dieter Claessens und Heinz Hartmann nur fünf Monate eingereichten Habilitation geht es allerdings nicht ganz mit rechten Dingen zu: Die Schrift „Funktionen und Folgen formaler Organisation“ ist bereits 1964 als Buch erschienen (Zudem war Claessens in Dortmund Luhmanns Vertreter).

Luhmann heiratet schon 1960, aber die drei Kinder sind noch im Schulalter als seine Frau 1977 stirbt, so dass er sich nun auch noch verstärkt um die Kindererziehung kümmern muss.
Luhmann selbst stirbt 1998 in Oerlinghausen im Kreis Lippe, vier Wochen vor seinem 71. Geburtstag.

Berühmt für Luhmann sind seine Zettelkästen, die Luhmann zur Verschlagwortung und Systematisierung seiner Forschung seit etwa 1951 angelegt hat. Diese sowie die bereits angesprochenen Manuskripte wurden von der Universität Bielefeld von der Tochter erworben, werden editiert und digitalisiert und sind zunehmend online zugänglich.

Luhmanns Theorie ist Gesellschaftstheorie der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesamtgesellschaft in Subsysteme. Besonders deutlich kommt dies in seinem 1997 erschienenen Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ zum Ausdruck, wobei es zu dieser Schrift übrigens einen Vorläufer aus den 1970er Jahren gibt, der Posthum zum 90. Geburtstag unter dem Titel „Systemtheorie der Gesellschaft“ erschienen ist.

Seine Schüler sind nicht so bekannt. Gegenwärtig wirkmächtig sind Udo Di Fabio, der seine zweite, in Duisburg abgelegte soziologische Dissertation von Luhmann als Drittkorrektur hat bewerten lassen, und Armin Nassehi, dessen Durchbruch zu allgemeinem Bewusstsein eigentlich erst mit dem Titel „Muster“ (2019) erfolgt ist, dessen Münsteraner Dissertation über „Die Zeit der Gesellschaft“ (1992) noch zu Lebzeiten Luhmanns dessen Werk ein weiteres Kapitel hinzufügte.

Quellen:
– Niklas Luhmann, Die Grenzen der Verwaltung. Mit einem Nachwort von André Kieserling und Johannes F. K. Schmidt, Berlin 2021
– Walter Reese-Schäfer, Luhmann zur Einführung, Hamburg 1999

Veröffentlicht von on Jan 10th, 2022 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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