Am 17. Januar 2022 wäre die Kurdin Hatun Aynur Sürücü 40 Jahre alt geworden. Wäre sie nicht 2005 in Berlin vom eigenen Bruder auf offener Straße erschossen worden
Benedikt Vallendar
Wenige Tage noch. Und Hatun Aynur Sürücü hätte den Gesellenbrief in der Hand gehabt. Elektroinstallateurin wollte sie werden. Leitungen legen, Geräte warten und vor Ort sein, wenn was kaputt war. Das war ihr Traum. Hatun hatte geschickte Hände, lachte viel, konnte gut mit Kunden, erinnert sich ein Arbeitskollege. Doch soweit kam es nicht. Denn am 7. Februar 2005 wurde die damals 23-Jährige von ihrem eigenen Bruder an einer Bushaltestelle in Berlin Tempelhof erschossen, mitten in den Kopf, ohne Überlebenschance. Unter dem weißen Tuch, das Rettungssanitäter über Hatun gelegt hatten, rann Blut auf die Straße, was damals auch im Fernsehen gezeigt wurde. Und der Diskussion um Integration und „Multi Kulti“ eine nachhaltig nachdenkliche Note verlieh. Bis zur so genannten „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015 und dem anschließenden Sprung der AfD in den deutschen Bundestag.
Kerzen und Kränze
Ein Gedenkstein am Tatort Oberlandstraße erinnert heute an das Verbrechen an Hatun Sürücü. Immer wieder liegen dort Blumen und Kränze, dazwischen rote Friedhofslichter und bunte Kärtchen. Auch eine Brücke wurde in Berlin nach Hatun Sürürcü benannt. Und immer wieder im Februar gedenken Berliner Politiker, Privatleute und Medienschaffende des grausamen Verbrechens. 2018 berichtete Sandra Maischberger in der Fernsehdokumentation „Nur eine Frau“ über den Fall. „Er agierte mit absolutem Tötungswillen“, so urteilten später die Richter über den Täter und verurteilten ihn zu neuneinhalb Jahren Jugendstrafe, weil er zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig war. Später gab der Mörder im Gefängnis ein Interview, bei dem er weiter seinen Hass auf die tote Schwester durchblicken ließ. Ob zwei weitere Brüder von den Mordplänen wussten, konnte bislang nicht bewiesen werden. Ermittler sind sich aber sicher, dass die Tat in der Familie abgesprochen war und auch die Tatwaffe dort besorgt wurde. Das Motiv: Mitglieder der Familie Sürücü hatten sich am westlichen Lebensstil Hatun Sürücüs gestört; dass sie dem Islam die rote Karte gezeigt und sich für ein eigenes, freies Leben in der bunten Metropole Berlin entschieden hatte. Hinzu kam, dass Hatun den Schleier abgelegt und ihren zwangsweise angeheirateten Ehemann verlassen hatte; sogar mit einem nichtmuslimischen Mann poussierte. „Dass sie bemüht war, ein eigenes, auch wirtschaftlich unabhängiges Leben zu führen“, so formuliert es der Soziologe Sergio Costa von der FU Berlin. „Vor allem die Sache mit dem anderen Mann war ihr Todesurteil“, glaubt hingegen ein früherer Nachbar, der sich noch gut an die junge Kurdin mit dem einnehmenden Lachen erinnert. Der Schock saß tief, als das Verbrechen, am hellichten Tage, mitten in der sich gerne weltoffen gebenden Hauptstadt geschah.
Kreuzberger Gymnasiastin
Hatun war von ihren Eltern Jahre zuvor in die Türkei geschickt worden, um dort traditionell muslimisch zu leben; will sagen: gehorsam, unterwürfig und alles hinnehmend, weil „Allah es will“.
Bald wurde sie schwanger und trennte sich von dem Mann, den sie „allenfalls sympathisch“ gefunden, aber nie geliebt habe, sagt eine frühere Freundin, die Hatun von der gemeinsamen Zeit auf dem Robert-Koch-Gymnasium in Kreuzberg her kannte. Oft gingen die Mädchen aus, was trinken, tanzen und Gleichaltrige treffen, was junge Leute halt so machen. Bis zur achten Klasse hatte Hatun die renommierte Schule in der Dieffenbachstraße besucht, bis Vater Sürücü seine immer selbstbewusster auftretende Tochter dort abmeldete und zu Hause einkasernierte. Hatun war in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften aktiv gewesen, heißt es, interessierte sich für Sport und fremde Sprachen.
Obgleich die Sürücüs seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, waren viele von ihnen nie dort angekommen, sagen Fachleute. Auch wenn einer der Söhne Abitur gemacht und bei der Bundeswehr gedient hatte. Heute lebt er, von der Polizei weiter als Mittäter verdächtigt, in der Türkei, trägt Kaftan und einen langen Bart. Frau und Kinder werden ins Nebenzimmer verbannt, sobald fremde Besucher auftauchen. So erlebte es ein deutsches Kamerateam, als es die Familie 2011 vor Ort aufsuchte. Da die Türkei nur selten Staatsbürger nach Deutschland ausliefert, lebt der Verdächtige dort relativ sicher, spricht fließend Deutsch und outet sich gern als treuer Diener des Propheten, dessen Lehre, die Scharia er für unumstößlich hält. Die Schwester umzubringen, sei „Allahs Wille“ gewesen, behauptet er bis heute.
Kontakt zur Kirche
Neben ihrer rebellischen, offenherzigen und für strenggläubige Muslime sicherlich nur schwer zu ertragenden Art hatte Hatun auch eine sanfte, nach innen gekehrte Seite, erinnert sich die frühere Freundin vom Kreuzberger Gymnasium. Als sie wieder mit ihrem Sohn in einem Berliner Frauenhaus lebte, sei Hatun öfters in der katholischen Herz Jesu Gemeinde in Tempelhof gewesen, sagt sie. Weil es dort Spielenachmittage und nette Gespräche bei Tee und Kuchen für 40 Cent gab, sagt sie. Hatun, groß geworden in einem muslimischen Milieu, sei überrascht gewesen, wie weltoffen und warmherzig es dort zuging. Einmal habe ihr Hatun davon erzählt, dass sie wohl im „falschen Elternhaus“ lebe und am liebsten auch katholisch wäre, berichtet ihre frühere Freundin. Sie sei sich aber nicht sicher, ob das Spaß oder Ernst war. Immerhin sei Hatun so ab 2003 wiederholt in der Gemeinde gewesen, wenn auch nur als Gast und ohne dort aktiv mitzuwirken. Als der Bruder und spätere Täter sie eines Abends, nahe einer Ampelkreuzung auf ihre Lebensweise ansprach, soll Hatun trotzig geantwortet haben, sie gehe, wohin sie wolle, und das mit wem auch immer. Woraufhin der Bruder eine Pistole zog, losfeuerte und sich seelenruhig davontrollte, so stand es später sinngemäß im Urteil. Über Wochen beherrschte die Tat die Medien, was die Trennung von Fiktion und Wahrheitsfindung mitunter erschwerte.
Ohne Reue
Große Teile der Familie Sürücü sollen mittlerweile in die Türkei zurückgekehrt sein, heißt es, und sich dort in der Gastronomie betätigen. Hatuns Mörder betreibt heute eine Dönerbude und verbringt offenbar viel Zeit im Internet. Der Vater, der als geistiger Brandstifter der Mordtat verdächtigt wurde, ist inzwischen verstorben. Und Hatuns Mutter stellt sich bis heute hinter den Täter, ihren Sohn, auch wenn sie von allem „nichts gewusst haben“ will.