Eine Bildungsbiographie in Kürze

Uwe Wesel veröffentlicht einmal mehr biographische Notizen

Matthias Wiemers

Ein erster Blick auf das hier vorzustellende Bändchen verblüfft: Postkartenformat, ln. geb. m. Schutzumschlag, 147 S., 24,95 Euro – ein stolzer Preis.
Aber trotzdem Uwe Wesel im nächsten Jahr seinen 90. Geburtstag feiern wird, tritt er gleich auf zweierlei Weise den Erwartungen entgegen, er habe dem Leser nun eine Autobiographie geliefert. Da sind zunächst einmal der Titel und der Untertitel. Der Titel ist ein Zitat, das im Buch aufgelöst wird, „Wozu Latein, wenn man gesund ist?“, was durchaus in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg passte. Wer damals gesund war und arbeitete, konnte durchaus aufsteigen – mit oder ohne akademischem Abschluss. Der Untertitel lautet sodann „Ein Bildungsbericht“ und verspricht dem Leser die Bildungsbiographie des Autors. Wer hierdurch ein dickbändiges Werk erwartet hätte, der würde dann durch das Vorwort des erfahrenen Autors und Schriftstellers sofort entwaffnet: Das Vorwort besteht aus einem Gleichnis über das wechselvolle Leben des französischen Marschalls und Politikers Philippe Petain, das in einem Zitat Petains gipfelt: „Warum soll ich Memoiren schreiben? Ich habe doch nichts zu verbergen.“ Man braucht hier keine Namen zu nennen, um den immerwährenden Versuch namentlich von Politikern, ihr Bild in der Geschichte positiver aussehen zu lassen, belegen zu können. Nennen wir aber dennoch zwei Titel: „Gedanken und Erinnerungen“ und „Denkwürdigkeiten“ (jeweils vier Bände), die alle spezifische Ziele verfolgten. Diesen Versuch nicht zu unternehmen, auch wenn man zweifellos die Fähigkeit zur Geschichtsschreibung besitzt, ist positiv aufzunehmen.
Der Band ist in drei Abschnitte eingeteilt: „Hamburger Kindheit“, Münchener Freiheit“ und „Berliner Arbeit“, wobei der dritte Teil teilweise schon in Wesels Buch Die verspielte Revolution: 1968 und die Folgen (Blessing, München 2002) niedergeschrieben wurde.
Im ersten Teil wird zunächst die Ausgangsposition des Protagonisten aus einer „kleinen Nazifamilie“ geschildert, wo zudem die Mutter frühzeitig von ihrem Mann verlassen wird und somit alleinerziehend mit drei Söhnen bleibt – nationalsozialistisches Arbeitermilieu. Aber die Mutter setzt sich ein, und der begabte Sohn besucht erst eine Oberschule und dann die Oberschule St. Georg mit so genannten Förderklassen, wo Wesel in vier Jahren zum Abitur (1953) geführt wird. Mit einem einfachen Fahrrad erschließt sich der junge Uwe Deutschland und Europa. Die ersten beiden Jahre des Studiums der klassischen Philologie in Hamburg muss sich Wesel noch durch Arbeit im Hafen finanzieren, dann wird er Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes, und er gerät an einen ersten Mentor, den Altertumswissenschaftler Bruno Snell. Dieser vermittelt Wesel an das Europa-Kolleg und in die Stelle eines Nachhilfelehrers, mit dem er sich sein weiteres Studium verdient. Im Europa-Kolleg trifft er auch den ein Jahr älteren Otto Schily. Ein weiterer Mentor wird der Soziologe Helmut Schelsky, der als Vertrauensdozent der Studienstiftung tätig ist. Mit dem Wintersemester 1956 wechselt Wesel zum Studium der Rechtswissenschaft und wechselt 1958 an die Universität München, wo er – auf Vermittlung Snells – an seinen späteren Lehrer Wolfgang Kunkel gerät – den Lehrer des römischen Rechts. Der sehr einflussreiche Kunkel organsiert ihm die Möglichkeit der Promotion in Saarbrücken, da das erste Staatsexamen – nur knapp mit „befriedigend“ bestanden – die Promotion in München nicht zulässt, und als er einen Wink aus Berlin erhält, dass dort eine Professur frei werde, wird die Habilitation im Zivilprozessrecht innerhalb weniger Monate organisiert.
Der lesenswerte zweite Teil zeigt uns vor allem noch einmal die alte Ordinarienuniversität, wo aber durch persönliche Förderung und Bescheidenheit eines Lehrers, der seine Assistenten fördert und nicht ausnutzt, vieles möglich ist. Und beim Wechsel nach Berlin 1968 fällt Wesel sofort in die Zeit der Studentenrevolution hinein, wo er nach kurzer Zeit als Vizepräsident der FU amtiert.
Der Rest des Bandes ist vor allem mit der Darstellung der Wesel´schen Bücher gefüllt, von denen das erste über „Der Mythos vom Matriarchat“ erst 1980 erscheint. Bedeutsame Werte folgen.
Wir alle wissen: Eine solche Karriere wäre heute nicht mehr möglich. Die Ordinarienuniversität ist abgelöst durch die Gruppenuniversität, die Wesel in seinem „Bildungsbericht“ schildert. Alles ist heute reguliert, und schon die Alleinerziehenden werden eher als Klienten des Sozialstaats behandelt denn als Bürger, die ihre Kinder erziehen und nach vorne bringen wollen.
Das große Versprechen des Aufstiegs durch Bildung wird heute nicht mehr eingelöst, auch wenn immer mehr Berufe „akademisiert“ werden. Insofern kann dieses Buch vor allem als eine Folie gelesen werden, von der sich heutige Bildungsbiographien deutlich abheben.
Fazit: Lesenswert.

Uwe Wesel
Wozu Latein, wenn man gesund ist? Ein Bildungsbericht
Verlag C.H. Beck 2021
149 Seiten; 24,95 Euro
ISBN-10: 3406781217

Veröffentlicht von on Jan 31st, 2022 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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