Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
neulich habe ich im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung einen Artikel von Nils Minkmar (Jahrgang 1966) gelesen, in dem tatsächlich „wegen dem“ stand. Kaum zu glauben! Sollte das ein Versehen gewesen sein?! Bald darauf las ich an gleicher Stelle einen Text von Marie Schmidt (Jahrgang 1983), in dem ebenfalls auf „wegen“ der Dativ folgte. Rein zufällig kann das also nicht passiert sein. Sicher auszuschließen ist, dass zwei SZ-Feuilletonisten oder gar der Redakteur nicht wissen, dass auf „wegen“ eigentlich der Genitiv zu folgen hat. Vielmehr dürften die Autoren „wegen“ mit Dativ bewusst als Stilmittel eingesetzt haben. Vor langen Jahren habe ich einmal ein Fernseh-Interview mit Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929) gesehen, in dem dieser auch ganz lässig „wegen dem“ gesagt hat. So etwas ist natürlich immer ein Statement. Bei Enzensberger sollte es wohl so etwas signalisieren wie: Ihr könnt mich alle mal mit eurer Pseudo-Bildungshuberei. Ich als Spitzen-Intellektueller rede einfach so umgangssprachlich, wie ich gerade Lust habe. Denn schließlich kann ich es mir erlauben, da ich niemandem mehr etwas beweisen muss. Im Gegensatz übrigens zu euch, ihr popeligen Fernseh-Zuschauer: Ihr müsst alle schön brav „wegen“ mit Genitiv benutzen, damit man euch nicht für Proleten ohne Abitur hält.
In der Tat gehört der Genitiv nach „wegen“ hierzulande zu den wohl verbreitetsten Distinktionsmerkmalen. Wenn irgendwo jemand „wegen dem“ sagt, dann rümpfen sofort alle um ihn herum die Nasen, außer im bildungsfernen Milieu. Oder, siehe oben, in Kreisen, die sich snobistisch über solche Konventionen hinwegzusetzen erlauben zu können glauben…
Ich selbst habe übrigens in meinen ersten siebzehn Lebensjahren immer nur „wegen dem“ gesagt. Wenn ich mich richtig erinnere, haben auch meine Eltern so gesprochen (wenn auch nicht unbedingt so geschrieben), obwohl sie Ärzte waren. Niemand in meinem Umfeld hat „wegen des“ gesagt, wohl nicht einmal die Deutsch-Lehrer in der Schule. So war das bei uns in der DDR. Wenn ausnahmsweise doch mal jemand „wegen des“ sagte, dann hieß es gleich: „Wie geschwollen redet der denn daher? So spricht doch keiner…“ Den Genitiv nach „wegen“ kannte ich hauptsächlich aus dem Film „Die Feuerzangenbowle“: „Herr Professor, es ist doch wegen dem Schild!“ – „Es heißt nicht ‚wegen dem Schild‘, es heißt ‚wegen DES SCHILDES‘.“
Genitiv-nach-wegen-Benutzer habe ich erst vor 33 Jahren nach unserer Übersiedlung in den Westen kennengelernt. Auf dem Bremer Gymnasium, das ich von nun an besuchte, redeten zu meinem Erstaunen beinahe alle so. Das war mir schon ganz am Anfang aufgefallen, und es fiel mir nicht schwer, mich rasch umzustellen. Auch meine Eltern sagten plötzlich nur noch „wegen des“, vielleicht ohne dass es ihnen bewusst geworden wäre.
Im Jurastudium in unserer Lern-AG gab es einen, der sagte am Anfang noch „wegen dem“: Aber als er dann hörte, wie die anderen und wohl insbesondere auch ich, der ich dort besonders viel redete, ständig „wegen des“ sagte, da sagte er irgendwann schließlich auch „wegen des“…
Noch heute benutze ich aus langjähriger Gewohnheit unverändert nach „wegen“ den Genitiv. Aber irgendwie würde es mich schon reizen, einfach mal wieder „wegen dem“ zu sagen, schon um meine Gesprächspartner damit zu provozieren. Aber da man nie genau weiß, wie sie das aufnehmen würden, und man ja auch niemanden vor den Kopf stoßen möchte (es könnte ja so rüberkommen, als ob man sich über diejenigen, die wirklich so sprechen, lustig machen wollte), werde ich es mir wohl auch weiterhin verkneifen…
Dein Johannes