Kirche und Staat

Die achte Auflage des „Staatslexikons“ der Görres-Gesellschaft ist vollendet

Matthias Wiemers

Was ist das eigentlich: die Görres-Gesellschaft? Die Vereinigung ist ein Teil des deutschen Verbandskatholizismus des 19. Jahrhunderts und hieß bis 1074 „Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im Katholischen Deutschland“. Die 1876 gegründete Laienorganisation, die bis heute keine explizite theologische Forschung betreibt, ist hinsichtlich ihrer Entstehung nur im Zusammenhang mit dem Kulturkampf in Preußen und dem Deutschen Reich zu verstehen. Die Gesellschaft ist in zahlreiche so genannte Sektionen aufgeteilt, darunter bis heute die Sektion für Rechts- und Staatswissenschaften, die das nachfolgend vorzustellende Werk herausgibt. Das Publikationsprojekt ist nur verständlich vor dem historischen Hintergrund, das sich die Mitglieder Gesellschaft als durchaus benachteiligte (katholische) Minderheit ansahen und den Beweis antreten wollten, auch gute Staatsbürger zu sein (und sich natürlich damit auch für den preußischen Staatsdienst namentlich in den Universitäten zu empfehlen). So wurde bereits zwei Jahre nach der Gründung der Entschluss gefasst, „ein auf katholischen Grundsätzen beruhende(s) Staatslexikon“ hervorzubringen, wie es bereits im Vorwort zur ersten Auflage heißt. Die ab 1889 erschien. Die zweite Auflage – der Rezensent besitzt mit ihr beginnend alle Auflagen – schliss sich bereits ab dem Jahre 1900 an, die dritte 1908. Verbreiteter ist die fünfte Auflage, die die Zeit der Weimarer Republik umfasst und von 1926 bis 1932 erschien.
War die Weimarer auch dadurch gekennzeichnet, dass der politische Katholizismus über die Zentrumspartei zahlreiche Reichsminister und mehrere Reichskanzler stellen konnte, so kann die Adenauer-Republik der Nachkriegszeit als eine gewisse Fortsetzung dieser Periode angesehen werden. Folglich kam in den Jahren 1957 bis 1970 die das Maß der fünf Bände der Vorauflagen verlassende und mit Ergänzungsbänden elfbändige sechste Auflage an das Licht der Öffentlichkeit. Die siebte Auflage (von 1985 bis 1987) bestand wieder aus fünf Bänden, die durch zwei Bände über „Die Staaten der Welt“ ergänzt wurden. Hier geht es um die achte Auflage, die in sechs Bänden von 2017 bis 2022 erschienen und zugleich auch online zugänglich ist. Auffällig ist hierbei, dass die einzelnen Auflagen des Staatslexikons praktisch vollständig in Zeiten von Unions-Regierungen fallen. Aber ob man noch davon ausgehen kann, dass hiervon eine Politik nach christlichen Vorstellungen ausgeht? Das Staatslexikon jedenfalls will ausweislich des Vorworts zum ersten Band nunmehr ausdrücklich „Antworten auf Herausforderungen der Gegenwart“ geben. Es versteht sich danach als „neben der fachwissenschaftlichen Kompetenz in der einhundertfünfzigjährigen Tradition des Staatslexikons auch christlicher Wertorientierung verpflichtet“, und zwar „in ethischen Fragen als offener Beitrag zur gesellschaftlichen und politischen Pluralität.“
Wird sodann im Vorwort ähnlich wie hier die Entwicklung des Staatslexikons referiert, so wird im Hinblick auf die Vorauflage der dort konstatierte „Wertewandel“ als heute zur Selbstverständlichkeit geworden festgestellt.
Blickt man in die Bände hinein, so finden sich solide Lexikonartikel, die besonders dadurch gekennzeichnet sind, dass die einzelnen Themen meistens in verschiedene, deutlich voneinander getrennte Abschnitte aufgeteilt sind – dies dann auch oftmals von verschiedenen Autoren bearbeitet. Dies war bereits in früheren Auflagen üblich und unterstreicht die Qualität des Werks, für das nur ausgewiesene Experten herangezogen wurden. Eine Frage drängt sich natürlich auf – wenn man vergleichend an die Entwicklung der allgemeinen Großlexika kurz vor ihrer Einstellung denkt – ob denn die einzelnen Artikel insgesamt kürzer geworden sind. Ohne dass der Rezensent nun den Gliedermaßstab gezückt hätte, kann man dies jedenfalls im Vergleich zur Vorauflage nicht sagen.
Im ersten Band werden vier grundsätzliche Veränderungsprozesse benannt, die der sechste Band noch einmal wiederholt und als bestätigt feststellt:
1. Ende des Kalten Krieges
2. Fortgesetzter Wertewandel, verstärkte Individualisierung und Pluralisierung
3. Fortsetzung der Globalisierungsprozesse
4. Revolutionierung von Medien- und Kommunikationssystem
Zum Abschluss wird auch darauf hingewiesen, dass, „weil Orientierung angesichts schnell verfügbarer Informationen (wie Fehlinformationen) in der digitalen Wissensgesellschaft an Bedeutung noch gewonnen“ habe, „inzwischen sukzessive neben die gedruckte auch die digitale Präsentation der Inhalte dieser Enzyklopädie getreten“ sei. Sie werde „begleitet von der Intention fortwährender Aktualisierung, um beides, Information und Orientierung, auf dem Stand zu halten.“
Ist dies der Abgesang auf eine neunte Auflage?
Dies ist nicht zu hoffen, aber gleichwohl zu befürchten, da das, was im Netz angeboten wird, häufig nicht mehr verkäuflich ist (Hauptseite – Staatslexikon (staatslexikon-online.de) . Zudem droht nun auch hier als gesichert gedachtes Wissen flüchtig zu werden – wie bei wikipedia.
Gleichwohl: Jeder Band ist haptisch ansprechend und wird zu einem annehmbaren Preis angeboten, und jedenfalls die Freunde des gedruckten Buchs, die sich verlässlich über die Entwicklungen von „Recht – Wirtschaft – Gesellschaft“ informieren wollen, werden die Anschaffung in Erwägung ziehen.

Staatslexikon: Recht – Wirtschaft – Gesellschaft. Bd. 4: Milieu – Schuldrecht, 8. Auflage 2022, Herder Verlag (herder.de), 800 Seiten; 88,00 Euro, ISBN: 3451375141.

 

Veröffentlicht von on Jul 18th, 2022 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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