Warum nach Maryanne Wolf diese essentielle Kulturfähigkeit nicht verkümmern darf
Patrick Mensel
Eine Digitalisierung ohne Reflexion bedeutet nicht Fort-, sondern Rückschritt. Die Kognitionswissenschaftlerin und Entwicklungspsychologin Maryanne Wolf formuliert in ihrem Buch „Schnelles Lesen, langsames Lesen“ ein eindringliches Plädoyer für die Rückkehr bzw. Beibehaltung der analogen Lektüre. Ungemein unterhaltsam und zugleich wissenschaftlich präzise wendet sie sich in neun Briefen an die Welt.
Der gedankenlose und nur zu oft auch grenzenlose Konsum digitaler Geräte hat längst Veränderungen im Lese- und Schreibverhalten und damit auch in der Kognition ausgelöst. Das lesende Gehirn passt sich an die immer oberflächlichere Lektüre ausufernder, digitaler Inhalte an. Selten wird das vollkommen versunkene, selbstvergessene Lesen, das Eintauchen in eine andere Welt – allein ausgelöst von Buchstaben auf Papier.
Tiefe intellektuelle und emotionale Veränderungen werden nur durch die ungestörte Lektüre ausgelöst, nicht nur das alltäglich gewordene – und mitunter auch sinnvolle – kursorische Lesen. Wir wechseln beim Lesen unmerklich die Perspektive, häufen einen Erfahrungsschatz an, erweitern unser Weltwissen. Film und Fernsehen bleiben bei Art und Ausmaß der Versenkung in andere Welten weit hinter dem Eintauchen in das schriftlich dargelegte Denken anderer Menschen zurück. Auch die Fähigkeit zur Empathie wird durch Lesen geschult. Unterbleibt weltvergessene Lektüre, sind Furcht, Missverständnisse, Unwissen und damit einhergehend auch Intoleranz und schlimmstenfalls Aggressivität die Folgen.
Maryanne Wolf verdammt digitale Medien nicht, ebenso wenig wie das digitale Lesen. Sie warnt jedoch vor einer naiven Technikgläubigkeit, die davon ausgeht, dass die Verfügbarkeit digitaler Angebote automatisch zu einem gewaltigen Fortschritt für die Menschheit führt.
Kinder und Jugendliche wachsen in einer zunehmend digitaler werdenden Welt auf und müssen sich in ihr zurechtfinden. Die für die zivilisierte Fortentwicklung der menschlichen Spezies notwendigen kulturellen (analogen) Errungenschaften dürfen bei aller Technikschulung nicht hintenanstehen. Nur durch eine kluge Verknüpfung digitaler und analoger Möglichkeiten werden die künftigen Herausforderungen zu meistern sein. Die Coverabbildung in Form eines halb aufgeklappten Laptops verbunden mit einem aufgeschlagenen Buch illustriert diese Interdependenz vortrefflich.
Schnelles Lesen, langsames Lesen: Warum wir das Bücherlesen nicht verlernen dürfen
Maryanne Wolf
Penguin Verlag, 2019
304 Seiten
ISBN-10: 332860099X
ISBN-13: 978-3328600992