Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
genau genommen begehe ich beinahe jede Woche einen Diebstahl. Zumindest erfülle ich, juristisch gesprochen, den Tatbestand des § 242 StGB, wobei es sich aber ausschließlich um geringwertige Sachen i.S.v. 248a StGB handelt, deren Klau nur auf Antrag des Geschädigten verfolgt wird oder wenn ein besonderes öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht, was aber beides ganz sicher nicht der Fall ist.
Beim Brotkaufen bei unserem Lidl nehme ich nämlich, wenn ich mein Brot aus der Schneidemaschine heraushole und in meinen mitgebrachten Brotbeutel stecke, fast jedes Mal auch einzelne Brotscheiben mit, die gar nicht zu meinem Brot gehören, sondern die zuvor von anderen Kunden, die ihr Brot vor mir in der Maschine geschnitten haben, dort zurückgelassen wurden. Vor allem die besonders leckeren Kantenstücke finden sich dort oftmals in großer Zahl. Die stecke ich dann immer einfach zu meinem geschnittenen Brot in den Brotbeutel. Offensichtlich passen viele andere Kunden beim Einpacken ihres geschnittenen Brotes nicht richtig auf, oder es ist ihnen egal, dass sie die leckeren Kantenstücke – und manchmal sogar noch mehrere weitere Scheiben – in der Maschine zurücklassen. Manchmal, wenn ich gerade Hunger habe, stecke ich mir solche Fremdbrotstücke sogar an Ort und Stelle gleich unauffällig in den Mund.
Unrechtsbewusstsein habe ich dabei keines. Ich schädige ja dadurch niemanden. Die Kunden, die „ihre“ Brotstücke dort zurückgelassen haben, hätten ja besser aufpassen können. Nach menschlichem Ermessen werden sie auch ganz bestimmt nicht wieder zurückkommen, um ihre vergessenen Brotkanten noch abzuholen. Rechtlich gesehen stehen die nicht mitgenommenen Brotstücke zwar weiterhin im Eigentum des Supermarktes. Der kann sie aber so einzeln gar nicht mehr verkaufen. Ich habe sogar manchmal beobachtet, dass am Abend, wenn die Brotschneidemaschine gereinigt wird, die in ihr noch herumliegenden Brotstücke zusammen mit den Krümeln in einen großen blauen Müllsack geworfen werden. So gesehen ist es doch sogar eine richtig gute Tat, die Brotstücke noch vor ihrer Entsorgung zu retten. Lebensmittel wegschmeißen – das geht ja wohl gar nicht!!
Dementsprechend habe ich auch große Sympathie für die jungen Leute, die sich nachts an den Containern neben den Supermärkten bedienen und dort die tadellosen weggeworfenen Lebensmittel herausfischen – und dafür dann von den Supermärkten wegen Diebstahls angezeigt werden. So etwas finde ich einfach nur empörend!! Und noch schlimmer, aber nach jetziger Gesetzeslage wohl nicht anders zu entscheiden, ist, dass sogar das Bundesverfassungsgericht die Strafbarkeit des „Containerns“ bestätigt hat. Höchste Zeit also, dass unser Gesetzgeber – so wie es etwa in Frankreich schon längst der Fall ist – das Wegwerfen von unverdorbenen Lebensmitteln verbietet, damit die Supermärkte ihre abgelaufenen Lebensmittel dann wenigstens zum halben Preis anbieten oder an die Tafeln verschenken müssen.
Jedenfalls werde ich mir auch weiterhin die Brotkanten aus der Maschine in den Beutel oder in den Mund stecken! Meine Frau legt sich sogar das Grünzeug vom Blumenkohl oder vom Kohlrabi, das sonst ebenfalls weggeschmissen würde, in den Einkaufswagen und schiebt es seelenruhig an der Kasse vorbei. Manchmal fragt die Kassiererin dann, ob sie „das da“ wegwerfen solle. „Nein“, sagt meine Frau dann nur und packt es ein, was genau genommen ebenfalls ein Diebstahl ist, aber es stört ja niemanden. Dieses kostenlose Grünzeug schmeckt uns immer sehr gut in der Suppe oder in der Gemüsepfanne und ist noch dazu super gesund. „Die Deutschen sind wirklich ganz komisch, dass sie so etwas Gutes einfach wegschmeißen“, findet meine Frau.
Dein Johannes