So bunt ist der Osten (geworden)

Eine ausgedehnte Sommer-Reise durch die frühere DDR fast 33 Jahre nach dem Mauerfall

Thomas Claer

Mit Gorbatschow in Dessau…

Dem 9-Euro-Ticket sei Dank: Mehr als 20 Orte haben meine Frau und ich in den letzten drei Monaten bereist. Immer als Tagesausflug. Früh morgens in den Zug gestiegen – und am Nachmittag oder Abend wieder zurück nach Berlin. Wir waren zum Bergwandern im Harz, zum Baden in der Ostsee auf Rügen, haben die schönen alten Hafenstädte Wismar und Stralsund besucht, Rostock und Greifswald natürlich auch. Auf den Spuren Fontanes spazierten wir durch Neuruppin, auf den Spuren Tucholskys durch Rheinsberg und auf den Spuren Brechts durch Buckow in der Märkischen Schweiz. Und dann die prächtigen Schlösser und Schlossgärten in Oranienburg und Ludwigslust! Erst jetzt haben wir entdeckt, dass es in Potsdam noch weitaus mehr zu entdecken gibt als Sanssouci, etwa die wunderschönen Gärten auf der Freundschaftsinsel in der Havel oder die Schlösser und Parks in Babelsberg und im Neuen Garten, in welchem sich allein drei Schlösser aus verschiedenen Epochen befinden…

Aber immer sind wir – was gar nicht unbedingt so geplant war – im Osten geblieben. In die alten Bundesländer hätte die Fahrt zu lange gedauert. Wir wollten ja immer auch noch am selben Tag wieder zurück. Na gut, Braunschweig oder Celle wären schon möglich gewesen und ganz sicher auch sehenswert. Doch dafür hat dann leider die Zeit nicht mehr gereicht. Drei Monate vergingen uns wie im Fluge. Was für ein Sommer!

Und so haben wir nun außer all den kulturellen Höhepunkten, von denen viele erst in den letzten zwei Jahrzehnten wieder aufgebaut worden sind, ganz nebenbei auch einen Eindruck davon bekommen, wie stark sich die neuen Bundesländer – offenbar besonders in den letzten Jahren – auch in sozialer Hinsicht merklich zum Besseren gewandelt haben. Das hässliche Wort vom rechten Osten, der lange mit Multikulti gefremdelt hat, wo in den Neunzigern die Flüchtlingsheime brannten und auch später noch dumpfe Ressentiments weit verbreitet waren, es war ja lange traurige Wirklichkeit. Zumindest haben wir es früher immer sofort gespürt, wenn ich mit meiner koreanischen Frau dort unterwegs war. Sobald wir Berlin verlassen hatten, manchmal sogar schon weit östlich innerhalb des Stadtgebiets, bemerkten wir feindselige Blicke in den öffentlichen Verkehrsmitteln, kurzgeschorene junge Männer in Springerstiefeln mit martialischen Tätowierungen. All das gibt es jetzt überhaupt nicht mehr. Zumindest nicht dort, wo wir gewesen sind…

Stattdessen sieht und hört man überall, ob in Stralsund oder Wismar, Dessau oder Halle, zahlreiche Migranten in den Straßen und Zügen. Arabische und afrikanische Familien, Asiaten und Osteuropäer, sie alle gehören mittlerweile ganz selbstverständlich zum Straßenbild – und die Mehrheitsbevölkerung begegnet ihnen mit Gleichmut. Niemand beachtet uns mehr, wenn ich mit meiner Frau unterwegs bin. Internationalität ist im Osten inzwischen genauso normal geworden wie in Berlin oder im Westen – und das haben wir sehr genossen. Es mag in manchen Dörfern der Sächsischen Schweiz oder anderen abgelegenen Regionen noch anders sein, aber nach unserem Eindruck in diesem Sommer ist der Osten fast überall ein lebenswerter Ort für alle und jeden geworden – was für die „innere Einheit“ Deutschlands von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

… und mit Händel in Halle.

Zehntausende, vielleicht sogar hunderttausende Menschen, ganz überwiegend Jüngere, sind seit der Flüchtlingskrise 2015 in den vormaligen Schrumpfregionen der neuen Bundesländer angesiedelt worden, was denen offensichtlich gut getan hat. Endlich gibt es dort wieder Hoffnung und Perspektiven, finden die Häuser wieder Bewohner, die Schulen wieder Schulkinder, die Betriebe wieder Lehrlinge. Auch die Gastronomie ist längst ebenso weltläufig geworden wie im Westen. Die Asia-Imbisse und Döner-Läden, sie waren die mutigen Pioniere, die sich vereinzelt schon vor mehr als zwanzig Jahren in den „wilden Osten“ gewagt haben, als es dort noch gefährlich war. Nun sind sie die etablierten Platzhalter, ihre Kinder gehören schon zu den Alteingesessenen. Und wer in buntgemischten Schulklassen unterrichtet wird, für den ist das Miteinander von Anfang an eine Selbstverständlichkeit. Vielleicht sind kleine und mittelgroße Städte ja sogar bessere Orte für das Zusammenwachsen unserer Gesellschaft als die Großstädte mit ihrem manchmal fatalen Hang zur Ghettobildung bestimmter migrantischer Milieus…

Nur ein bis heute bestehender Unterschied zwischen Ost und West lässt sich einfach nicht wegdiskutieren: In ostdeutschen Asia-Imbissen gibt es – zumindest in den allermeisten Fällen – leider kein Tofu. Warum nur? Es ist doch so viel gesünder als Fleisch, dazu umweltfreundlicher und schmeckt auch weitaus besser, zumindest uns. Sollten die Ostdeutschen wirklich alle kein Tofu mögen?! Erst wenn sich daran etwas geändert hat, wird die deutsche Einheit vollendet sein.

P.S.: Gerade lese ich, dass die SPD als Nachfolge-Regelung zum 9-Euro-Ticket ein 49-Euro-Ticket vorschlägt. Wenn das wirklich kommen sollte, sage ich zu meiner Frau, dann werden wir wohl bald nur noch unterwegs sein und gar nicht mehr zu Hause…

Veröffentlicht von on Aug 29th, 2022 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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