Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
früher, während meiner Juristenausbildung, hatte ich mehrere schwere Krankheiten. Zumindest habe ich mir das eingebildet, denn meine ärztlichen Untersuchungen blieben jeweils ohne Befund. Zuerst hatte ich wochenlang Herzbeschwerden, das war wohl schon in den unteren Semestern in der Klausurenphase. En Druck und ein Ziehen im Brustkorb und im linken Oberarm. Zu dieser Zeit hatte mein Vater, damals Anfang 60, gerade zwei Herzinfarkte nacheinander. Ich ging dann zu dem Arzt, der auch ihn behandelt hatte, und der meinte, das sei ja naheliegend, dass man, wenn man mit so etwas konfrontiert sei, auch mal mehr in sich selbst hineinhorche. Es sei aber alles in Ordnung bei mir. Ob ich denn auch einen empfindlichen Magen hätte? Ja, in der Tat. Na dann sei das wohl insgesamt eher psychisch ausgelöst und werde sicherlich auch von alleine wieder verschwinden. Und so war es dann auch. Schon unmittelbar nach dem Arztbesuch waren meine Beschwerden vollständig abgeklungen.
Ein paar Jahre später, als ich mich aufs erste Staatsexamen vorbereitete, hörte ich einen permanenten Pfeifton im Ohr, auf der einen Seite stärke als auf der anderen. Nach ein paar Wochen ging ich zum HNO-Spezialisten, der dann verschiedene Tests mit mir machte. Nein, da sei nichts zu finden, ob ich denn Stress hätte? Ja, und wie, das Staatsexamen stehe vor der Tür. Da lachte der Arzt nur und meinte, das sei stressbedingter Tinnitus, nach dem Staatsexamen werde der wieder verschwinden. Erstaunlicherweise war er aber schon gleich, nachdem ich die Arztpraxis verlassen hatte, dauerhaft abgeklungen.
Einige Zeit später, in der Anfangsphase meiner Promotion, glaubte ich, einen Gehirntumor zu haben. Ich hatte einen einschlägigen Artikel darüber im Wissenschaftsteil der Süddeutschen Zeitung gelesen und verspürte dann mehrere Wochen lang ein Taubheitsgefühl und Kribbeln im Unterarm. Der Neurologe, bei dem ich mich schließlich deshalb vorstellte, schob mich in seine Röhre und machte noch mehrere weitere Untersuchungen. Alles war in Ordnung. Dann befragte er mich über meine Lebensumstände und schüttelte den Kopf. „Sie werden es aber schwer haben im Leben, wenn Sie auf Drucksituationen immer auf solche Weise reagieren.“ Na wenigstens könne er noch eine psychiatrische Beratung abrechnen. Da schrillten aber bei mir die Alarmglocken, da ich zu jener Zeit noch damit liebäugelte, später vielleicht einmal in den Öffentlichen Dienst einzutreten. Das wäre doch ein Ausschlusskriterium! Ich beschloss, mich auf gar keinen Fall einer psychiatrischen Behandlung zu unterziehen, und hoffte inständig, dass dieser Arztbesuch keine dauerhaften Spuren in meiner Krankenakte hinterlassen würde. Auch wenn ich vollkommen deprimiert war, immerhin waren die Taubheit und das Kribbeln im Unterarm nun auf einen Schlag verschwunden.
Ein bis zwei Jahre darauf war ich schon auf der Zielgeraden meiner Promotion und plagte mich mit heftigen Zukunfts- und Existenzängsten. Da bekam ich wieder Herzbeschwerden, ganz ähnlich wie einige Jahre zuvor. Nach ein paar Monaten ging ich dann doch wieder zum Kardiologen, es könnte ja womöglich doch etwas Ernstes sein. Aber als er nichts fand und mich nach meinen Lebensumständen befragt hatte, klopfte er mir aufmunternd auf die Schulter: „Keine Sorge, mein Lieber, Sie haben eine exzellente Ausbildung absolviert und haben ausgezeichnete berufliche Aussichten.“ Das wisse er ganz genau. Früher oder später werde sich das auszahlen, da könne ich völlig unbesorgt sein. Und solche Wehwehchen, die würden sich dann allesamt in Luft auflösen. Ich solle da einfach gar nicht mehr dran denken.
Genau das tat ich dann, und blieb tatsächlich von nun an weitgehend von Beschwerden verschont. Offenbar hatte ich genau diesen Zuspruch gebraucht, obwohl er in seiner inhaltlichen Begründung weitgehend aus der Luft gegriffen war. Aber es fügte sich dann letztlich doch noch alles bestens in meinem Leben, wenn auch vollkommen anders, als zuvor gedacht. Nur noch zweimal in den darauffolgenden Jahrzehnten hatte ich wieder solche anhaltenden stressbedingten Symptome. Und da ich ja nun wusste, dass ich mir so etwas leicht einbilde, erklärte ich bei meinen Arztbesuchen gleich, dass ich nur zur Sicherheit käme und vermutlich gar nichts hätte. Der Urologe, bei dem ich mich mit Prostatabeschwerden vorstellte, reagierte allerdings etwas verärgert. „Jetzt passen Sie mal auf, wo sich Ihre Prostata befindet.“ Er zog sich einen Gummihandschuh an und schob mir unvermittelt seinen ausgestreckten Mittelfinger tief in den After. „Hier ist Ihre Prostata. Und tut da etwas weh?“ Nein. „Also sehen Sie, Sie haben nichts. Nicht verrückt machen, mein Lieber!“ Und wenn da in dieser Gegend doch mal etwas weh täte… Also, man könne es ja mit allem übertreiben… Da müsse man sich dann aber auch nicht wundern… Beschämt verließ ich die Arztpraxis und beschloss, künftig am besten gar nicht mehr zum Arzt zu gehen.
Noch einmal, vor etwa zehn Jahren, habe ich mein Herz untersuchen lassen. Schließlich bin ich familiär vorbelastet. Bald darauf habe ich dann aber angefangen, jeden Tag ausgiebig Sport zu treiben, was alle meine nervösen Befindlichkeitsstörungen sehr nachhaltig zurückgedrängt hat. Und wahrscheinlich ist auch durch den Tod meiner Eltern vor sechs Jahren eine Menge Druck von mir abgefallen… Wenn ich heute auf meine Hypochonder-Historie zurückblicke, finde ich sie vor allem zum Lachen, auch wenn mir damals gar nicht danach zumute gewesen ist.
Aber nun, seit ich 50 bin, bekomme ich einen Brief von der Krankenkasse nach dem anderen: „Kommen Sie zur Darmkrebs-Vorsorgeuntersuchung!“, heißt es da. Und „Kommen Sie zur Herz-Vorsorgeuntersuchung!“ Und natürlich auch: „Kommen Sie zur Prostata-Vorsorgeuntersuchung!“. Bisher habe ich alle diese Einladungen ignoriert. Aber irgendwann sollte ich da vielleicht sicherheitshalber doch mal hingehen, man kann ja nie wissen…
Dein Johannes