Sozialrecht im Umbruch

Drei neue Titel zeigen die Situation ganz gut auf, in welchem Umbruch sich das Sozialrecht momentan befindet

Matthias Wiemers

Der geplante Umbruch geht mit dem Inkrafttreten des SGB XIV zum Jahresbeginn 2024 einher. Das Gesetz, das kurz vor Weinachten 2019 beschlossen wurde, will das Recht der Sozialen Entschädigung neu regeln und sieht, wie es sonst nur in der EU und gelegentlich auch im Sozialrecht vorkommt, eben eine entsprechende Übergangszeit vor. Wie es im Vorwort des in der bewährten Reihe „Lehr- und Praxiskommentar“ erscheinenden Werks heißt, soll „das Werk 8…) auch in der Übergangsphase bis 2024 eine übersichtliche Kommentierung der relevanten Gesetze der relevanten Gesetze der sozialen Entschädigung aus einer Hand ermöglichen.“ Hierzu enthält der Band eingangs eine Synopse, „die denjenigen, die sich noch am alten Recht orientieren, das Auffinden der Neuregelung erleichtern“ soll.
Nach der Synopse folgt eine „Vorbemerkung zu den §§ 1 ff. SGB XIV. Auch die eigentliche Kommentierung des § 1 SGB XIV beginnt noch einmal mit einer „A. Gesetzesgeschichte“ . Damit wird der Leser insgesamt strukturiert in das Recht der Sozialen Entschädigung in einer Weise herangeführt, die den gängigen Lehrbüchern zum Sozialrecht schon vom Umfang her überlegen ist. Wichtig ist auch, was man in der Kommentierung des § 2 SGB XIV erfährt, dass die dort erfolgende Festlegung des Kreises der Leistungsberechtigten bereits seit Anfang 2021 gilt. Insgesamt ergibt sich das sukzessive Inkrafttreten der seinerzeit durch ein Artikelgesetz verbundenen Rechtsänderungen aus Art. 60 dieses Artikelgesetzes, der im Kommentar am Ende mit abgedruckt ist. Ebenfalls abgedruckt und teilweise auch kommentiert sind das „Gesetz über die Hilfe für durch Anti-D-Immunprophylaxe mit dem Hepatitis-C-Virus infizierte Personen“, das Häftlingsgesetz, das Strafrechtliche Rehabilitationsgesetz und das Verwaltungsrechtliche Rehabilitationsgesetz sowie weitere Regelungen.
Der Leser gewinnt hierbei einen weitgehenden Überblick über das Recht der Sozialen Entschädigung, das u. a. das Opferentschädigungsgesetz (OEG) und das Bundesversorgungsgesetz (BVG) ablösen wird.
Hervorzuheben ist, dass in den Einzelkommentierungen oftmals in Bezug genommene Vorschriften abgedruckt werden und insbesondere Änderungen gegenüber dem BVG als dem früheren Hauptgesetz des sozialen Entschädigungsrechts gesondert hervorgehoben werden, was den Überblick erleichtert. Vorkenntnisse der Gesamtmaterie bleiben allerdings auch bei diesem „Lehr- und Praxiskommentar“ erforderlich.
Der ein oder andere Leser mag sich nun übrigens gewundert haben über die Zählung der Sozialgesetzbücher. Es ist tatsächlich so, dass man nach XII die XIII übersprungen hat, weil die 13 für eine Unglückszahl gehalten wird. Welch paternalistisches Verständnis, das hier zum Umgang mit dem letztlich doch nur verwalteten Sozialstaatsklientel zum Ausdruck kommt!

Sabine Knickrehm/ Olaf Rademacker (Hrsg.), Sozialgesetzbuch XIV. Soziale Entschädigung. Lehr- und Praxiskommentar, Baden Baden 2022, 1365 S., 149 Euro (ISBN 978-3-8487-3912-7)

Betritt der vorstehende Kommentar auch teilweise Neuland und unterstützt den Gesetzgeber bei der Fortsetzung der Kodifizierung des Sozialrechts, so geht das seit Jahrzehnten etablierte „Sozialrechtshandbuch“ einen nur leicht anderen Weg: Es wird nicht nach Paragraphen kommentiert, sondern in systematischen Zusammenhang erklärt. Und auch dieses Werk hat in seinem Umfang zugenommen: Gegenüber der mit auch vorliegenden 5. Auflage (2012) ist es exakt um 300 Seiten gewachsen. Seit der Vorauflage (2018) hat sich der Kreis der Herausgeber nicht mehr verändert: Es sind der Gründungsherausgeber Franz Ruland, langjähriger Präsident des Verbandes der Rentenversicherungsträger, Ulrich Becker vom Max- Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München und Peter Axer, Ordinarius an der Universität Heidelberg. Von den Bearbeitern sind einige ausgeschieden, eine größere Zahl ist hinzugekommen.
Inhaltlich wandelt sich das Handbuch nur allmählich. Es enthält nunmehr 36 Einzelkapitel, die sich auf fünf Teile verteilen
In den „Grundlagen“ liefert Ulrich Becker zunächst einen Beitrag über das Sozialrecht und seine Systematisierung, Verortung und Institutionalisierung (§ 1), Andreas Hänlein stellt die „Geschichte des Sozialrechts“ (§ 2) dar. Hans-Jürgen Papier und sein Schüler Foroud Shirvani zeigen den „Einfluss des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht“ (§3). Winfried Schmähl stellt die ökonomischen Grundlagen sozialer Sicherung dar und das Autorenteam Jörg Althammer, Maximilian Sommer und Richard Hauser blicken in die „Zukunft des Sozialstaats“ (§ 5). Thesenartig zeigen die Autoren am Schluss ihrer Ausführungen „Gewichtsverschiebungen im Gesamtsystem“ auf, die nicht nur künftige, sondern auch bereits erfolgte Verschiebungen aufzeigen. Wenige Randnummern zuvor haben sie konkret eine Prognose gewagt (Rdnr. 80): „Der stärkste Anstieg der sozialen Bedarfe wird sich voraussichtlich im Bereich von Gesundheit und Pflege ergeben, der aktuell kaum im Blickfeld der sozialpolitischen Diskussion steht.“ Leider trifft diese Einschätzung zu – trotz der zahlreichen Pflegereformgesetzt in den beiden vorhergehenden Legislaturperioden, die in die Zeit der Vorauflage fielen.
Der zweite Teil des Handbuchs ist mit „Sozialleistungsträger – Sozialleistungen – Verfahren“ überschrieben und beginnt mit einer Darstellung des Sozialleistungsverhältnisses (§ 6) durch Minou Banafsche und Ralf Kreikebohm. Raimund Waltermann stellt die „Sozialleistungen“ (§ 7) Systematisch dar und Frauke Brosius-Gersdorf zeigt das „Leistungserbringungsrecht in der Sozialversicherung“ (§ 8). Die „Zusammenarbeit der Leistungsträger“ (§ 9) ist das Thema von Hans-Jürgen Kretschmer, gefolgt von „Ersatzpflichten Dritter“ (§ 10, Hermann Plagemann und Felix Fischer), „Sozialdatenschutz“ (§ 11, Carsten Kremer, Simone von Hardenberg und Jörg Reinhardt), „Sozialverwaltungsverfahren einschließlich Handlungsformen“ (§ 12, Hermann Butzer und Anna-Lena Hollo). Ein Kapitel über „Das sozialgerichtliche Verfahren (§ 13) von Thomas Flint rundet den zweiten Teil ab.
Teil 3 ist speziell der Sozialversicherung gewidmet. Sylvia Dünn beginnt mit „Organisation und Selbstverwaltung der Sozialversicherung“ (§ 14). Peter Axer fasst die „Grundlagen des Versicherungs- und Beitragsrechts mit der Darstellung der Künstlersozialversicherung zusammen (§ 15). Claudia Maria Hofmann und Astrid Wallrabenstein stellen das „Krankversicherungsrecht“ (§ 16), Wolfgang Spellbrink die „Unfallversicherung“ (§ 17), Franz Ruland die „Rentenversicherung“ (§ 18) und Gerhard Igl die „Pflegeversicherung“ (§ 19) dar. Der Teil schließt mit Darstellungen der agrasozialen Sicherung (§ 20, Gerhard Sehnert) und der „Arbeitsförderung“ (§ 21, Karl-Jürgen Bieback).
Teil 4 ist den sonstigen Bereichen des Sozialrechts gewidmet und somit schon eher eine Vereinigung heterogener Phänomene. Vereinigt sind hier die berufsständischen Versorgungswerke (§ 22, Iris Kemmler), das „Sozialhilferecht“ (§ 23, Jutta Siefert), die „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ (§ 24, Sabine Knickrehm und Karen Krauß), das „Kinder- und Jugendhilferecht (§ 25, Thomas Trenczek), „Soziales Entschädigungsrecht“ (§ 26, Friedhelm Hase und Mikola Preuß), das Recht der Rehabiliation und Teilhabe“ (§ 27, Felix Welti), „Wohngeldrecht“ (§ 28, Joachim Becker), „Familienlastenausgleich“ (§ 29, Dagmar Felix) und „Ausbildungsförderung“ (§ 30, Timo Hebeler). Das letzte Kapitel über „kommunale Sozialpolitik“ (§ 31, Markus Schön) scheint schon in der Vorauflage in den Band gelangt zu sein, und in der Tat ist die Betonung der kommunalen Potentiale bei der Bewältigung sozialer Problemlagen erst ein Thema der letzten Jahre gewesen. Hier wird man insbesondere im Bereich der Pflege noch mehr erwarten müssen, und in der Tat gehört die pflege auch zum hier aufgezeigten Spektrum kommunaler Betätigung (Rdnr. 68 ff.).
Teil 5 umfasst „Internationales, supranationales und zwischenstaatliches Sozialrecht“ und besteht aus fünf Kapitel. Gaz praktisch beginnt er mit einem Beitrag über „Das nationale Recht grenzüberschreitender Sachverhalte“ (§ 32, Heinz-Dietrich Steinmeyer), gefolgt von den völkerrechtlichen „Sozialversicherungsabkommen“ (§ 33, Ulrich Petersen).
Es folgen zwei Kapitel zum EU-Recht, und zwar „Soziales EU-Verfassungsrecht“ (§ 34) von Frank Schreiber und „EU-Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ (§ 35) von Albrecht Otting.
Markus Kaltenborn beschließt den Band mit einem Beitrag über „Globales Sozialrecht – Soziale Sicherung als Aufgabe internationaler Organisationen“ (§ 36), worin neben dem sozialen Menschenrechtsschutz vor allem die Tätigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) behandelt wird.

Franz Ruland/ Ulrich Becker/ Peter Axer (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 7. Auflage, Baden Baden 2022, 1925 S., 179 Euro (ISBN 978-3-8487-8638-1)

Was im „SRH“ den letzten Teil mit ausmachte, füllt an anderer Stelle im Verlagsangebot von Nomos einen ganzen Band. Der in der Reihe „Nomos Kommentar“ jetzt schon in achter Auflage erschienene Titel
Herausgeber sind die Hochschullehrer Maximilian Fuchs (Eichstädt-Ingolstadt) und Constanze Janda (Speyer), die von elf weiteren Autoren aus Theorie und Praxis unterstützt werden.
Auch hier liegt die Vorauflage genau vier Jahre zurück. Der Band gliedert sich in zehn Teile, wobei im ersten Teil die einschlägigen Artikel 45 bis 48 des AEUV kommentiert werden. Im Zentrum des Kommentars steht sodann die Kommentierung der Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Die Kommentierung enthält auch zugehörige Empfehlungen und Beschlüsse sowie am Ende auch in der EU gebräuchliche Dokumente für grenzüberschreitende Tätigkeitsaufnahmen.

Teil 3 bildet der Artikel 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, der die arbeitsrechtliche Gleichstellung zum Gegenstand hat, Teil 4 die Richtlinie 2011/24/EU, die Patientenrichtlinie.
Teil 5 beinhaltet die Kommentierung der Richtlinie 79/7/EWG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung im Bereich der sozialen Sicherheit, Teil 6 die Richtlinie 2006/54/EG über die Gleichbehandlung in Arbeits- und Beschäftigungsfragen und Teil 7 die Richtlinie 2000/43/EG .
Teil 8 besteht aus zwei Teilen (a-b) und enthält Kommentierungen rentenrechtlicher Richtlinien. Teil 9 stellt das Sozialrecht in den Assoziierungsabkommen der EU dar, und Teil 10 ist dem europäischen Rechtsschutz im Sozialrecht gewidmet.
Fazit: Es gibt knappere und umfangreichere Darstellungen des europäischen Sozialrechts. Dieser Kommentar ist der Kommentar für den Praktiker, der ständig mit grenzüberschreitenden Sachverhalten in einem zunehmend europäisierten Arbeitsmarkt zu tun hat. Hier hat die Dynamik zunächst etwas nachgelassen. Insgesamt können wir in Deutschland auf die Umsetzung des koalitionären Vorhabens „Bürgergeld“ warten. Dies dürfte jedenfalls beim Sozialrechtshandbuch den Erscheinungszyklus eher verkürzen. Die mögliche Aufnahme der Ukraine in die EU – gewissermaßen ein Großbulgarien – dürfte umfangreiche Regelungen zur Einhegung der damit freigesetzten Arbeitsmigrationsdynamik nach sich ziehen. Aber dies dürfte noch einige Jahre dauern.

Maximilian Fuchs‘/ Constanze Janda (Hrsg.), Europäisches Sozialrecht. Reihe Nomos Kommentare., 8. Auflage, Baden Baden 2022, 154 S., 158 Euro ISBN 978-3-8487-8694-7

Veröffentlicht von on Okt 10th, 2022 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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