Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
der Eintritt in den Öffentlichen Dienst war mir gewissermaßen in die Wiege gelegt. Meine Mutter arbeitete in einer staatlichen Poliklinik (wie man es in der DDR genannt hat), mein Vater in einem staatlichen Krankenhaus, später im Westen dann bei einer Landesversicherungsanstalt. Sein Bruder, mein West-Onkel, war zunächst einfacher Beamter und stieg später auf zum Leiter des Ordnungsamtes seiner kleinen Stadt (weil niemand sonst diesen Job machen wollte, wie er gesagt hat). Und der Vater meines Vaters und meines West-Onkels, mein Großvater väterlicherseits, den ich noch mit drei Jahren kurz vor seinem Tod kennenlernen konnte, woran ich aber leider keine Erinnerung mehr habe, war sogar Kreisinspektor in Ostpreußen und später im Rheinland dann auch wieder höherer Beamter. Irgendwann habe ich noch herausgefunden, dass der Vater meines Großvaters, mein Urgroßvater, Postangestellter gewesen ist und dessen Vater, mein Ururgroßvater, ebenfalls. Dessen Vater wiederum, mein Urururgroßvater war königlich-preußischer Förster, ebenso wie sein Vater, mein Ururururgroßvater. Meine gesamte väterliche Namenslinie über mindestens sechs Generationen – alle waren sie Staatsangestellte. (Und selbst das „schwarze Schaf“ unserer Familie und zugleich der einzige Prominente, den sie jemals hervorgebracht hat, ein Onkel dritten Grades von mir, hat vorübergehend als Polizist gearbeitet…)
Dementsprechend ist mir auch schon in frühester Kindheit – und später natürlich noch viel öfter – geraten worden, ebenfalls einen solchen Weg einzuschlagen. Und ich schien ja auch alle Voraussetzungen dafür mitzubringen. Das Aufräumen meines Kinderzimmers war für mich nie eine Pflichtübung, sondern hat mir immer großen Spaß bereitet. Mein Spielzeug ordnete und sortierte ich beinahe ebenso akribisch wie mein Vater seine Werkzeuge, seine Nägel und Schrauben, seine Münzsammlung und unsere Fotoalben. Oder wie mein Onkel die Hängeregister, in denen er selbst zu Hause seine Dokumente fein säuberlich angeordnet hatte…
Und auch in meinem weiteren Leben bin ich immer sehr strukturiert, organisiert und ordnungsliebend geblieben. Nur beim Öffentlichen Dienst bin ich zur großen Enttäuschung meiner Eltern und Verwandten nie gelandet. Es hat sich einfach nicht so ergeben. Direkt nach der Juristenausbildung, vor zwanzig Jahren, als meine berufliche Zukunft mir wie ein bedrohliches großes schwarzes Loch erschienen ist, da wäre ich dafür ganz sicher sehr aufgeschlossen gewesen. Aber die Frage stellte sich überhaupt nicht, weil es seinerzeit überhaupt keine Chance darauf gab, so ohne gute Examensnoten. Und nach einigen Jahren der Demütigung, da wollte ich dann selbst nicht mehr, weil es anders auch gut ging. Sehr gut sogar, wie ich damals fand und noch immer finde…
Nur meine mittlerweile verstorbenen Eltern haben das leider nie verwunden. Sie fanden es wohl bis zuletzt im Grunde ihres Herzens völlig unmöglich, dass ich als kleiner Freiberufler durchs Leben spazierte, statt mir einen nach ihrer Vorstellung „richtigen Job“, einen „ordentlichen Job“ zu suchen, am besten natürlich einen als Staatsangestellter. Jahrelang haben sie mir immer wieder unter die Nase gerieben, wie sehr sie sich für meinen prekären Status schämten. Aber immerhin haben sie mich nicht enterbt und sogar noch jeweils etwas Geld für mehrere Wohnungskäufe zugeschossen, für den ersten sogar die Hälfte des (aus jetziger Sicht allerdings äußerst moderaten) Kaufpreises, wofür ich ihnen natürlich bis heute sehr dankbar bin. Aber noch auf dem Sterbebett bat mich meine todkranke Mutter mit letzter Kraft: „Kannst du nicht doch noch in den Öffentlichen Dienst eintreten?!“
Ein ganz bemerkenswerter Satz hat sich mir auf unserer Referendargruppen-Fahrt nach Prag vor 23 Jahren tief eingeprägt, den ein älterer Professor, den wir damals dort im Rahmen unseres Kulturprogramms getroffen haben, eigentlich nur auf das deutsch-tschechische Verhältnis gemünzt hatte. Aber er ist von geradezu universeller Gültigkeit: „Manche Probleme werden erst auf dem Friedhof gelöst“, hat er gesagt. Und genau so ist es. Wenn bestimmte Menschen irgendwann nicht mehr da sind, sind auch bestimmte Probleme irgendwann aus der Welt.
Dein Johannes