Recht historisch: Vor 100 Jahre tobte die Hyperinflation in Deutschland
Thomas Claer
Heinrich Friedrich Christian Nützmann (1873-1926), mein Urgroßvater von der väterlichen Seite meiner Mutter, war Schäfermeister im mecklenburgischen Groß Lunow in mindestens dritter Generation. Wie auch über meine anderen Urgroßeltern weiß ich nicht gerade viel über ihn. Doch ist mir oftmals, und stets mit warnendem Unterton, von meiner Mutter berichtet worden, wie ihr sieben Jahre vor ihrer Geburt verstorbener Großvater in der Hyperinflation im Jahr 1923 seine gesamten Ersparnisse verlorenen hat. Es soll sich um eine Summe von 22.000 Reichsmark gehandelt haben, was für einen Schäfermeister in der damaligen Zeit ein außergewöhnlich hoher Betrag gewesen sein muss. Mein Urgroßvater wird also in seinem Beruf nicht schlecht verdient, sparsam gewirtschaftet und vielleicht auch etwas von seinen Eltern geerbt haben. Doch hat er seine bemerkenswerten Ersparnisse leider nicht in Sachwerten angelegt, sondern das Geld stattdessen seinen Vettern geliehen, die damit Häuser für sich gebaut haben. Als dann schließlich ein Brot mehrere Millionen Reichsmark kostete, legten ihm die frechen Cousins die nun beinahe wertlos gewordenen Geldbündel auf den Tisch: “Hier, Heinrich, hast du dein Geld zurück.” Von diesem Missgeschick hat sich mein Urgroßvater offenbar nie mehr richtig erholt, denn kaum drei Jahre darauf hat ihn die Tuberkulose hinweggerafft. Er war erst 52 Jahre alt.
Auch mein anderer Urgroßvater von der väterlichen Seite meines Vaters – Todesjahr 1930 – ist nur 53 Jahre alt geworden. Bei ihm ist nicht einmal die Todesursache überliefert, ja vermutlich damals gar nicht erst genauer ermittelt worden. Seinerzeit galt es als keineswegs ungewöhnlich, wenn jemand bereits mit Anfang fünfzig den Löffel abgab. Für uns Heutige fühlt sich ein solches Alter – toi, toi, toi – eher nach Lebensmitte an. Es ist schon ein nicht zu unterschätzendes Privileg, in Zeiten mit exzellenter medizinischer Versorgung leben zu dürfen.
Nur ein einziges Mal hat meine Mutter die Geschichte vom Reinfall ihres Opas in der Hyperinflation von ihren Eltern erzählt bekommen, als diese sich während einer Auseinandersetzung in höchster Erregung befanden. Es war ihnen wohl auch irgendwie peinlich, ein solches Desaster ihres Vaters und Schwiegervaters zuzugeben, das er schließlich durch sein unkluges Verhalten maßgeblich selbst mit herbeigeführt hatte. Aber wie sollte ein Schäfermeister, mutmaßlich ohne tiefere Einblicke in die weltökonomischen Zusammenhänge, in Fragen von Kriegskrediten, Reparationsforderungen der Siegermächte nach dem verlorenen Weltkrieg und die abenteuerliche Finanzpolitik der Reichsregierung, denn ahnen können, dass sich der Wert seiner langjährigen Ersparnisse so einfach von heute auf morgen in Luft auflösen könnte? Vielleicht war mein Urgroßvater auch zu gutmütig, sah für sich selbst und seine Familie (noch) nicht die Notwendigkeit eines Hausbaus oder Immobilienerwerbs, da sie bereits gut und kostengünstig untergebracht waren, während ihn seine Vettern womöglich flehentlich um Kredit für ihre Projekte baten.
Nur ein einziger konkreterer Hinweis auf die Wesenszüge meines Urgroßvaters ist überliefert. Meine Mutter berichtete mir, wie sie als kleines Mädchen von einem Nachbarn namens Bauch angesprochen wurde, der überall nur auf Plattdeutsch “Bauch mit dat een Pierd” genannt wurde, weil er genau ein Pferd besessen haben soll. Herr Bauch also sagte zu ihr: “Din Grotvadder, den hef ick ok kennt. Dat is’n gaanz muulfuuln Minschen wast.” (Hochdeutsch in etwa: “Deinen Großvater habe ich auch gekannt. Das ist ein gaaanz maulfauler Mensch gewesen.”) Mein unglückseliger Urgroßvater war also, wenn man den Aussagen von “Bauch mit dat een Pierd” trauen kann, schweigsam und introvertiert.
Seine Ehefrau hingegen, meine Urgroßmutter Anna Nützmann, geborene Riedler, genannt nach ihrem Geburts- und langjährigen Wohnort Oma Lunow, ist stets als energisch und resolut beschrieben worden. Sie war 15 Jahre jünger als mein Uropa und hat ihn nach dessen Tod noch um 45 Jahre überlebt. Sie starb erst wenige Monate vor meiner Geburt 1971, nachdem sie wohl schon lange Jahre im Haus meiner Großeltern gelebt hatte. Allerdings galt sie als sehr in traditionellen Geschlechtervorstellungen verhaftet. Wenn mein Vater, so hat er es mir später oft erzählt, nach dem Essen bei seinen Schwiegereltern den Tisch mit abdecken wollte, wies ihn Oma Lunow stets mit ihrem Stock in Richtung Sofa und sagte zu ihm: “Do lech di hin!” (Also: “Du leg dich hin!”) Sie war der Meinung, dass Männer sich am besten von jeder Hausarbeit fernhalten sollten. Meine Mutter berichtete mir oftmals, wie sie als junges Mädchen gerne auf den Dachboden ging, wo interessante Bücher lagen. Doch ihre Großmutter, Oma Lunow, schimpfte dann immer: “Is se all wedder bi de Bäukers?” (Also: “Ist sie schon wieder bei den Büchern?”) Nach ihrer Ansicht sollte ein junges Mädchen nämlich lieber Hausarbeiten verrichten, als Bücher zu lesen. Dennoch hat sich meine Mutter später nicht davon abhalten lassen, Medizin zu studieren.
Fünf Kinder hatten Heinrich und Anna Nützmann, von denen jedoch vier schon mehr oder weniger früh verstarben. Nur mein Großvater Erich Nützmann (1910-1985) konnte eine Familie gründen. Zwei seiner Geschwister haben bereits das frühe Kindesalter nicht überlebt. Sein ein Jahr älterer Bruder Hermann hat sich Anfang 1933 im Alter von 24 Jahren selbst eine Kugel in den Kopf geschossen, weil er mit einer jungen Dame verlobt war, aber dann eine andere junge Dame geschwängert hatte. Eine solche Schande war für ihn so unerträglich, dass er seinem jungen Leben ein Ende setzte. Der zehn Jahre jüngere Bruder meines Opas, Werner, blieb hingegen im Krieg in der Sowjetunion verschollen und wurde schließlich für tot erklärt.
Ich habe meinen Opa mütterlicherseits noch gut kennengelernt, denn als er 1985 starb, war ich schon 13 Jahre alt. Unvergesslich sind mir seine zornigen kraftvollen Faustschläge entweder auf den Fernseher, wenn das Bild flackerte, oder auf den Tisch, wenn ich irgendetwas nicht essen mochte. Als ich dann auf seine Ermahnung “Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!” mit der unverfrorenen Frage reagierte, ob ich denn auch die Teller und Tassen und Bestecke essen solle, die kämen doch schließlich auch auf den Tisch, wurde er wütend und drohte mir Schläge an, was er aber, anders als meine Mutter, niemals umgesetzt hat. Sah er hingegen, wie ich am Abendbrotstisch die überstehenden Enden der Wurst- und Käsescheiben auf meinen Broten zurechtschnitt, um sie exakt der Form des geschnittenen Brotes anzupassen, dann freute er sich darüber sehr und sagte: “Dat hätt hei von mir.” (“Das hat er von mir.”) Dabei hatte ich es mir wahrscheinlich gleichermaßen von meinen Eltern abgeschaut…
Mein Opa, der sein Leben lang ein begeisterter Kleingärtner war, hatte keine hohe Schulbildung genossen, war gelernter Stellmacher, d.h. er baute Wagenräder aus Holz, und wurde später nach der Verdrängung der Pferdewagen durch das Automobil zum Tischler umgeschult. Dennoch hat er zeitlebens viel gelesen. Immer, wenn er nicht gerade fernsah, sah ich ihn lesend im Sessel sitzen, entweder den Lokalteil der Tageszeitung “Freie Erde”, die auf ihren vorderen Seiten genauso unleserlich war wie alle anderen DDR-Zeitungen auch, oder die “Wochenpost”, zu deren glücklichen Abonnenten meine Großeltern gehörten. Diese Zeitschrift, die damals im Osten als allseits begehrte “Bückware” galt, enthielt zwar keine offen systemkritischen, aber doch mitunter doppeldeutige und manchmal sogar ironische Texte und Reportagen über den tristen DDR-Alltag, dazu auch anspruchsvolle Kulturberichte. Mein Opa las jede Ausgabe der Wochenpost komplett von vorne bis hinten, manchmal aber auch ganze Bücher. Sein ´Lieblingswerk waren “Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk” von Jaroslav Hasek, die ihn wohl an seine eigenen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg erinnert haben. Dort war er lange Jahre in sowjetischer Gefangenschaft geblieben, wohl auch, weil er zu einer Kompanie gehörte, die an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein soll. Niemals hat er darüber gesprochen, überhaupt hat er so gut wie nichts von früher erzählt. Und schon gar nicht von seinem Vater, der in der Hyperinflation 22.000 Reichsmark verloren hat. Mein Opa war damals 13 Jahre alt, muss also schon eine Menge davon mitbekommen haben. Wie wäre sein Leben verlaufen, wenn sein Vater, der Alleinernährer der Familie, nicht so früh gestorben wäre? Wenn es für ihn keinen wirtschaftlichen Druck gegeben hätte, so früh die Schule zu verlassen und einen Beruf zu erlernen? Wenn die 22.000 Reichsmark (oder womöglich sogar noch viel mehr) am Ende bei ihm als Alleinerben gelandet wären? Hätte er damit etwas anfangen können?
Ich habe meinen Opa nur schwerhörig erlebt, was von seinem langjährigen Job im Sägewerk herrührte. Sein großes Glück waren seine immer auf maximale Lautstärke gestellten Kopfhörer, mit denen er fernsah, denn nur mit ihrer Hilfe konnte er alles verstehen, was dort gesagt wurde. Bestimmt hätte er auch gerne mal Westfernsehen geguckt, aber dafür war der Empfang zu schlecht. So musste er mit dem äußerst langweiligen DDR-Fernsehen vorliebnehmen und hat sich dennoch nie darüber beklagt. Sein Sohn, der ältere Bruder meiner Mutter, der nur ein paar Häuser weiter wohnte, empfing dank einer riesigen Antenne auf dem Dach gestochen scharfes Westfernseher, am Ende sogar in Farbe. Aber um so etwas auch zu bekommen, hätte mein Opa seinen Sohn darum bitten müssen, dies für ihn zu organisieren. Und das wäre meinem Opa, der sehr stur war, nie in den Sinn gekommen, denn er hatte zu seinem Sohn kein besonders gutes Verhältnis. Meine Mutter meinte, mein Opa sei eifersüchtig gewesen auf seinen eigenen Sohn, weil meine Oma vor allem ihren Sohn und weniger ihren Mann, meinen Opa, so angehimmelt hätte…
Politisch hatte mein Opa keine bestimmte Meinung. Er war nur der Ansicht, mit ihm und den kleinen Leuten könnten die Regierenden, egal in welchem System, es ja machen. Ihn habe nie jemand gefragt, wie er etwas finde. Da seien die DDR-Politiker nicht besser als die früheren oder die ganz früheren, und dass die im Westen besser sein könnten, das konnte er sich auch nicht vorstellen…
Mein Opa hing sehr an meiner Oma. Als sie schon mit Mitte 60 dement wurde und bald niemanden mehr erkannte, wurde mein Opa trübsinnig und begann immer mehr zu trinken. Im Stall hinter seinem Haus türmten sich die von ihm geleerten Schnapsflaschen. Jedes Mal, wenn meine Eltern und ich meine Großeltern besuchten, nahmen wir eine große Kofferraumladung leere Schnapsflaschen mit nach Hause, wo wir sie dann zum Altstoffhandel brachten und ich die Quittungen mit in die Schule nehmen konnte. Es gab ja in der DDR immer den großen Schülerwettbewerb, wer am meisten Altstoffe, also hauptsächlich alte Flaschen, Gläser und Zeitungen, gesammelt hatte. Viele meiner Mitschüler zogen dafür von Haus zu Haus und erbaten sich die Altstoffe ihrer Nachbarn. Das hatte ich nicht nötig, weil ich von meinem Opa stets mit so vielen leeren Schnapsflaschen versorgt wurde, dass ich in diesem Wettbewerb mehrmals Spitzenplätze belegte…
Als meine Oma gestorben war, verließ meinen Opa vollkommen der Lebensmut. Nur wenige Monate später wurde er, der bis dahin als kerngesund galt, mit einer leichten Infektion ins Krankenhaus gebracht, wo er dann kurz darauf 75-jährig verstarb. Seine drei Enkelkinder, also meine beiden Cousinen und ich, haben den Fehler seines Vaters, unseres Urgroßvaters, vermieden und den größten Teil unserer jeweiligen Vermögen in Sachwerten angelegt.