Im kommenden Jahr wäre der in Stettin geborene DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Schnur 80 Jahre alt geworden – einer, der sich jahrelang in der evangelischen Kirche engagiert hatte, heimlich für die Staatssicherheit arbeitete und am Ende Ministerpräsident eines untergehenden Staates werden wollte.
Benedikt Vallendar
Ein Bild, das im März 1990 um die Welt ging: DDR-Anwalt Wolfgang Schnur auf den Fluren des katholischen Alexianer Sankt Hedwig Krankenhauses in Berlin-Mitte, mit Morgenmantel, Pantoffeln und ängstlichem Blick in die Kamera; kurz nachdem er als heimlicher Informant der Staatssicherheit (Stasi) enttarnt worden war und einen Kreislaufkollaps erlitten hatte. Dennoch gab Schnur bereitwillig Interviews, um sich zu „erklären“, wie er sagte.
26 Jahre später. Wolfgang Schnur ist tot. Seine letzte Postadresse in Wien: Gallmayergasse 7-9, Appartement Nr. 4, Stadtteil Döbling, neunzehnter Bezirk. So steht es in seiner Krankenakte, die erhalten geblieben ist. Schnur könnte dort Mieter eines privaten Eigentümers gewesen sein, da er in den archivierten Akten der Hausverwaltung namentlich nicht auftaucht. Möglicherweise hat er dort auch umsonst gewohnt oder nur ein Postfach gehabt, niemand weiß es, seine Familie hüllt sich in Schweigen. Döbling gilt zwar laut Wikipedia als „Nobelbezirk“, doch liegt die Gallmayergasse in einer eher unscheinbaren Wohngegend, mit kleinen Geschäften, Imbissläden und Kommunalwohnungen aus den sechziger Jahren, die bis zur ersten Etage blau gekachelt sind. Schnurs ehemalige Wohnung liegt am Ende eines schmalen, dunklen Ganges, auf dem man sich nur flüchtig grüßt und wenig bis gar nichts voneinander weiß; ideal für jemanden, der zurückgezogen leben möchte und daher wohl auch ideal für Wolfgang Schnur in seinen letzten Lebensjahren. Unweit befindet sich eine private Musikschule, die auch Kurse für Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen anbietet. Kaum einer in der Straße ahnt, wer hier mehrere Jahre gelebt hat. Mitte der achtziger Jahre hatte die DDR-Staatssicherheit Wolfgang Schnur vom einfachen inoffiziellen Mitarbeiter IM zum IMB, will sagen: zu einem mit „Feindberührung“ befördert; was hieß, dass Schnur als aktiver Zerstörer in oppositionelle Zirkel eindringen sollte, um im Keim das zu verhindern, was den SED-Staat im Herbst 1989 zum Einsturz gebracht hat. Als Gruppen und Grüppchen von Unzufriedenen binnen Wochen, Tagen und Stunden zu einer Massenbewegung mutierten und die DDR schon bald Geschichte war; getragen von Fluchtwellen über Ungarn, wo die Regierung im Mai 1989 mit der zaghaften Demontage des Gitterzauns zu Österreich begonnen und die Aktion scheinheilig als „Reparaturmaßnahme“ bezeichnet hatte. Sein letztes Fernsehinterview gab Schnur in Potsdam, in der Wohnung seiner Ex-Frau, die den damals schon todkranken Vater ihrer drei gemeinsamen Kinder bei sich aufgenommen hatte. Das Interview wurde im Buch „Der verratene Verräter“ (2015) von Alexander Kobylinski zitiert und war Grundlage für den Dokumentarfilm „Der Fall Wolfgang Schnur“ (2017/rbb).
Schnurs Grab befindet sich heute auf dem Sophienfriedhof in Berlin, ein schlichtes Nummerngrab mit Namensschild, weiß Jürgen Haase von der gleichnamigen Filmproduktionsfirma. Haase hat über Schnurs Innenleben ein Theaterstück und ein Sachbuch veröffentlicht; ein Leben, das wohl eher ein Doppelleben gewesen sein dürfte. Denn jahrzehntelange hatte der Anwalt Freunde, Familie und Politiker an der Nase herumgeführt; und zugleich ein für DDR-Verhältnisse mondänes Leben geführt, mit schnellen Autos, edlem Zwirn und schönen Frauen, so Pastor Rainer Eppelmann, nur eines von vielen Schnur-Opfern. Eine Karriere, die Schnur nicht in die Wiege gelegt war. Von der Mutter 1944 ins Heim gegeben, Vater unbekannt, wuchs er ab seinem zweiten Lebensjahr bei Adoptiveltern auf, kinderlosen Neubauern im Dorf Natzevitz auf Rügen, in einem intellektuell eher weniger anregenden Umfeld. Erst kurz vor ihrem Tod im Jahre 1993 hat sich Schnur mit seiner leiblichen Mutter, angeblich einer Jüdin, die den Krieg überlebt hatte, versöhnt.
„Inoffizielle Mitarbeiter mit Feindberührung waren die Schlimmsten unter den Schlimmen“, sagt Eppelmann, zugleich letzter DDR-Verteidigungsminister über seinen langjährigen Freund. „Diese sollten nicht nur Informationen sammeln, sondern den politischen Gegner zerstören“, sagt er. Eppelmann, mittlerweile 80 Jahre alt, ist bis heute bestürzt über die Verstrickungen Schnurs in die kommunistische Diktatur. Die Freundschaft dürfte dem alleinigen Zweck gedient haben, Eppelmann im Auftrag der Stasi zu „vernichten“, vermuten Historiker. Denn der umtriebige Pastor aus der Berliner Samariterkirche galt im SED-Staat als oppositioneller Hardliner; jemand, der auch lange vor Gorbatschow kein Blatt vor den Mund genommen und die Diktatur beim Namen genannt hat. Mitte der neunziger Jahre sei ihm Schnur bei einem Gerichtsprozess in Rostock zuletzt begegnet, sagt Eppelmann.
Von Termin zu Termin
Wolfgang Schnurs persönlicher Nachlass lagert heute im Bezirksgericht Döbling, den einzusehen es aufwendiger Anträge per Briefpost bedarf; wegen der strengen österreichischen Regeln zum Persönlichkeitsschutzrecht Verstorbener. In die Gallmayergasse sei auch „die Post hingegangen“, bestätigt indes ein Sprecher der Klinik Ottakring, in der Schnur wegen Prostatakrebs behandelt wurde; als verhutzelter Greis und Patient, dem kaum etwas Böses anzusehen war.
Doch die 39 Aktenbände, die im Frühjahr 1990 in der ehemaligen Rostocker Stasi-Bezirksverwaltung zutage traten, sprechen eine deutliche Sprache. In 25 Jahren seiner Zusammenarbeit mit der DDR-Staatssicherheit hat Schnur nahezu alles berichtet, was ihm Mandanten und Kollegen in der evangelischen Kirche anvertraut hatten. Manche saßen wegen politischer Vergehen in Haft, andere hatten als Bausoldaten den Dienst an der Waffe verweigert. Hinzu kamen Berichte aus Gremiensitzungen der evangelischen Kirche, in der sich „Bruder Schnur“ ab Mitte der siebziger Jahre einen Namen gemacht hatte. Viele zehntausend Kilometer legte er im Jahr per Pkw zurück, quer durch die DDR und auch im westlichen Ausland; von einem Termin zum nächsten und dazwischen immer wieder Treffs mit Führungsoffizieren der Staatssicherheit, oft im Auto in Nebenstraßen und auf Waldlichtungen. Vieles ist auf Tonbändern gespeichert und liefert einen faszinierend-gruseligen Eindruck vom pathologischen Innenleben eines Menschen, der gegenüber seinen Mandanten einen auf Christ machte, beim DDR-Geheimdienst den „Kommunisten“ mimte und im März 1990 zusammen mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) in Erfurt auf einer Wahlkampfbühne stand. Kurz darauf der Absturz. Als Schnur durch lancierte Presseinformationen ans Messer geliefert wurde, und sein Traum vom Amt des ersten frei gewählten DDR-Ministerpräsidenten ein jähes Ende fand.
Millionen Schulden
Wie genau sich die letzten Lebensjahre Schnurs zwischen Wien und Potsdam abgespielt haben, lässt sich indes nur noch vage rekonstruieren. Vieles deutet darauf hin, dass er am Ende recht trostlos gelebt hat, mittellos, abgehängt und von besseren Tagen träumend. Angesprochen auf Wolfgang Schnur erinnern sich Nachbarn in der Gallmayergasse an einen gedungenen alten Mann in abgetragener Kleidung; einer, der leise sprach, mit Gehhilfen vor sich hin schlurfte und sich sonntags am Kiosk um die Ecke mit diesem und jenem versorgte. Und „wie fesch“ der mal ausgesehen habe, sagt eine ältere Dame, als sie Fotos des jungen Wolfgang Schnur zu sehen bekommt.
Wovon Schnur zuletzt gelebt hat, ist unklar. Bei der Wiener Sozialbehörde, im Amt MA 40 liegen keine Daten über ihn vor. Den Sterbeplatz im Ottakringer Spital habe ihm ein ehemaliger Genosse vermittelt, sagt TV-Produzent Jürgen Haase, auch weil „der Medienrummel dort geringer“ war als in Deutschland. Und dass Schnurs Leichnam später klammheimlich in die Heimat gebracht worden sei. Weitere Angaben Fehlanzeige.
Neben elf Kindern mit verschiedenen Frauen hat der einst gefeierte Jurist Millionen Euro Schulden hinterlassen, nachdem Immobiliengeschäfte aus dem Ruder gelaufen waren; hinzu kamen undurchsichtige Deals mit Aktien und Müll und ein kurzfristiges Engagement in der Hotelbranche. Ob Schnur auch Goldgeschäfte in Ghana betrieben hat, wie eine Berliner Zeitung Mitte der neunziger Jahre gemutmaßt hatte, blieb ungeklärt.
Seine Zulassung hatte Schnur bereits 1993 verloren, wegen Mandantenverrats, was in seiner Branche als No-go-Tat gilt und am Ende auch vom Bundesgerichtshof (BGH) so gesehen wurde. Es folgten Jobs als Investitionsberater und Geldbeschaffer für einen dubiosen Fonds in England sowie Verurteilungen zu Geld- und Bewährungsstrafen; unter anderem wegen der Beleidigung eines Richters und „politischer Verdächtigung“, weil Mandanten durch Schnurs zwielichtiges Taktieren kurzzeitig im Gefängnis gelandet waren. „Schnur war ein Dreckskerl“, entfährt es einer ehemaligen Dissidentin und früheren Mandantin, die die DDR 1988 mit ihrem damaligen Ehemann verlassen konnte; und sich augenscheinlich nie mit dem Unrecht im SED-Staat abgefunden hat. Einem Unrecht, das die Betroffenen oft erst später merkten. So hat Schnur vielen seiner inhaftierten Mandanten nicht nur inoffizielle Stasibefehle eingeflüstert, sondern auch „Andacht“ mit ihnen gehalten, wie seine IM-Akte verrät.
Maurer und Jungfunktionär
Doch der Staat, dem Schnur diente, war mehr als eine Diktatur der Mächtigen über die Ohnmächtigen. Er brachte auch Menschen zutage, die keine Skrupel kannten, um für Macht und Einfluss zu lügen, zu täuschen und über Leichen zu gehen. Viele Schnur-Mandanten sind verstorben oder leiden weiter an ihren Hafterlebnissen. „Es war die Gier nach Anerkennung, Reichtum und Zuneigung, die sich wie ein roter Faden durch das Leben des Wolfgang Schnur zieht“, sagt der Buchautor und Diakon Lothar Rochau aus Halle. Und keiner vermag ihm zu widersprechen. 2021 hat Rochau seine Erlebnisse mit Schnur in einem lesenswerten Buch verarbeitet, das im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist.
Mielkes Musterschüler
Nach der Schule absolvierte IM „Torsten“ alias Wolfgang Schnur zunächst eine Maurerlehre und trat als Jungfunktionär in Erscheinung. Journalist wollte der begabte Schüler werden und heuerte dafür, als die innerdeutsche Grenze noch durchlässig war, bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an. Doch die schickte ihn zu Recherchezwecken zurück in die Ostzone, was Schnur ablehnte und stattdessen reuig um Wiederaufnahme in die Welt des real existierenden Sozialismus bat; eine Bitte, die ihm nach einigem Hin und Her auch gewährt wurde. Mit Anfang zwanzig dann die Bewerbung bei der Stasi, in Abendkursen das Abitur nachgeholt und zumindest zeitweilig darauf hoffend, als hauptamtlicher Geheimdienstler Karriere zu machen. Doch auch daraus wurde nichts. Denn als verdeckt arbeitender Kirchenanwalt war Schnur den Genossen wertvoll genug, um ihn bis zum Untergang ihres Staates als inoffiziellen Zuträger und Einflussagenten an der Leine zu halten; geködert durch Geldprämien, Urkunden und einen aus Westdeutschland importierten Mercedes-Benz, der sein ganzer Stolz gewesen sei, wie sich Weggenossen erinnern. Nach Recherchen Alexander Kobylinskis soll Stasi-Minister Erich Mielke persönlich dafür die Einfuhrgenehmigung erteilt haben.
Den Benz hatte sich Schnur in Augen der Stasi redlich verdient. 1973 hatte ihr Zögling an der Berliner Humboldt-Universität (HU) sein Jurastudium mit der Note „gut“ beendet und wurde Anwalt in Binz auf Rügen; später in einer Villengegend am Berliner Müggelsee, auch mit finanzieller Hilfe der Bundesregierung, bei der Schnur seit Beginn der achtziger Jahre als engagierter „Menschenrechtsanwalt“ galt. Nach der Wende lebte er mit einer 20 Jahre jüngeren Frau, einer Naturheilpraktikerin und dem gemeinsamen Sohn auf einem Anwesen in Groß-Köris bei Berlin. Schnur war in der DDR einer von nur wenigen hundert Einzelanwälten gewesen, da „Unrecht“ im Arbeiter- und Bauernparadies laut Staatsdoktrin nicht vorsehen war.
Wie Hund und Herrchen
Diese zugegeben recht abstrusen Vorstellungen von Recht, Gerechtigkeit und Gesellschaft kannten im SED-Staat kaum Grenzen. Nach der Wende kam heraus, dass der Bereich Kriminalistik an der Berliner Humboldt Universität eine verdeckte Abteilung der DDR-Staatssicherheit gewesen war, was Schnurs beruflichen Ambitionen zumindest nicht unförderlich gewesen sein dürfte. Fünf Dozenten fungierten in der Humboldt-Kriminalistik als „Offiziere im besonderen Einsatz“ (OibE), um den Bereich unter Kontrolle zu halten; wozu auch naturgemäß Entscheidungen über bestandene und nicht bestandene Examina zählten. Zudem befasste sich die Stasi-Hauptabteilung XX/8 mit der systematischen Überwachung aller DDR-Hochschulen. „Schnur benahm sich im Verhältnis zu SED und Staatssicherheit wie ein Hündchen, das um die Beine seines Herrchen scharwenzelt, immer auf der Suche nach Nähe, Bestätigung und irgendwelchen Leckerlis“, bilanziert die Bonner Historikerin Jenny Krämer. In der Tat, viele Leckerlies wurden Schnur gewährt. Doch haben sie ihn nicht davor bewahrt, am Ende vor den Trümmern eines gescheiterten Lebens zu stehen.
Zum Autor:
Dr. Benedikt Vallendar, geboren 1969 und aufgewachsen im Rheinland ist freier Journalist und Berichterstatter der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main. 2004 wurde er an der FU Berlin im Fach Neuere Geschichte promoviert.