Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
mit der Religion und mir wird es in diesem Leben wohl nichts mehr werden. Dabei war ich insbesondere in jüngeren Jahren durchaus aufgeschlossen für solche Fragen. Aber je älter ich werde, desto weniger kann ich damit anfangen. Zwar kann man als denkender Mensch mit halbwegs funktionierenden Sinnesorganen, wie ich immer sage, eigentlich gar nicht unreligiös sein, denn es ist doch wohl mehr als offensichtlich, dass insbesondere in der belebten Natur fortwährend Kräfte walten, die – modern gesprochen – eine Art übergeordnete Programmierung erkennen lassen. Wer durch Wälder und blühende Landschaften laufen kann, ohne dass ihn eine Art Naturfrömmigkeit überfällt, muss schon sehr abgestumpft sein. Was man aber Religion nennt, ist, böse gesagt, die Bewirtschaftung des sich aus dieser Wahrnehmung ergebenden metaphysischen Bedürfnisses der Menschen in zumeist unguter Absicht. Denn unter dem Deckmantel der Sinnstiftung und Nächstenliebe sind hier perfide und oftmals zynische Kontroll- und Herrschaftssysteme errichtet worden, die über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg schon viel Unheil angerichtet und großes Leid über die Menschen gebracht haben. Wobei sie natürlich gleichzeitig durch ihr soziales Wirken “nach innen” auch punktuell Gutes bewirken können und gelegentlich sogar bewirkt haben…
Es lohnt sich aber auf alle Fälle, zwischen den einzelnen Religionen zu differenzieren. Tendenziell am schlimmsten sind, unter uns gesagt, die monotheistischen Religionen, denn das sind wahre Intoleranzkulturen. Es ist kein Zufall, dass Länder, in denen monotheistische Religionen in ihrer unaufgeklärten Version Staatsdoktrin sind, zu den schlimmsten Tyranneien gehören – wie sich aktuell z.B. in Russland oder Iran beobachten lässt. Weit weniger zu beanstanden sind die polytheistischen Religionen und insbesondere die vermutlich einzige atheistische Religion, der Buddhismus. Zumindest vom Grundsatz her ist der Buddhismus durch sein Toleranzgebot weitaus verträglicher und friedlicher als alle anderen Religionen. Das habe ich bereits als Jugendlicher so gesehen, weshalb ich schon seit mehr als 30 Jahren eine Buddha-Figur auf meinem Schreibtisch stehen habe. Klar, es gibt auch militante Buddhisten, so wie sich wahrscheinlich jede noch so gute Lehre und Weltanschauung mit entsprechender Böswilligkeit auch irgendwie missbrauchen lässt.
Doch nun habe ich durch das zunehmende Engagement meiner Frau erstmals nähere Bekanntschaft mit den Inhalten der buddhistischen Lehre gemacht und musste feststellen, dass ich den Buddhismus wohl doch in all den Jahren ein wenig zu sehr romantisiert und gleichsam durch die rosarote Brille betrachtet habe. Vielleicht bin ich ja durch meinen ausgeprägten Individualismus bereits für jede kollektive Sinnstiftung verdorben, denn vieles von dem, was ich da gelernt habe, gefällt mir ganz und gar nicht. Insbesondere die so genannten “Nanugis”, in denen man allen anderen Teilnehmern mitteilen soll, was man gerade so denkt, empfinde ich als regelrecht übergriffig. Was geht das die anderen an, was mir gerade durch den Kopf geht?! Ich finde so etwas sogar ausgesprochen verlogen, denn was die Teilnehmer dann tatsächlich äußern, sind ausschließlich korrekte Sachen. Niemand hat in seinem Nanugi erklärt, dass er gedacht habe, dass das ganze doch ziemlich langweilig sei und wann die Sitzung wohl endlich zu Ende gehe. Es hat auch niemand mitgeteilt, dass er gedacht habe, dass er gerade ziemlichen Hunger habe oder dass er Teilnehmerin X oder Teilnehmer Y ziemlich erotisch findet. Oder dass er dem impertinenten Teilnehmer Z für sein Gelaber am liebsten mal eine reinhauen würde. Wäre ja auch ziemlich unhöflich, so etwas frank und frei zu sagen. Aber warum macht man dann überhaupt so etwas? Und dann wollen sie einem ständig einreden, dass man durch materielle Dinge keine wahre Freude erleben kann. Das wahre Glück gebe es nur durch Erleuchtung, der man durch geduldiges Praktizieren allmählich näherkommen könne. Das mag ja alles gut und schön sein, aber für mich ist das wirklich nichts. Wie schön ist doch das Leben ohne Religion, ohne dass einem ständig jemand komische Sachen einreden will! Die Buddha-Figur lasse ich aber trotzdem weiter auf meinem Schreibtisch stehen, da ich den Buddhismus unverändert als das geringste Übel unter den Religionen ansehe. So wie die Demokratie laut Churchill die schlechteste Regierungsform ist, abgesehen von allen anderen.
Dein Johannes