Das polnische Osinów Dolny gilt als „Dorf der Frisöre“ – angeblich mit den weltweit meisten Salons an einem Ort. Doch längst ist Osinów Dolny auch ein Ort europäischer Begegnung geworden, an dem Frisöre mitunter als Seelsorger fungieren
Benedikt Vallendar
Drei Kundinnen warten an diesem Vormittag auf Bedienung. Und das kann dauern. Denn heute, am Tag der deutschen Einheit hat es besonders viele Besucher nach Osinów Dolny gelockt. Um einzukaufen, Freunde in Berlin zu besuchen; oder um sich preiswert in Polen die Haare machen zu lassen. Frisörmeisterin Renata Banatowa (33) und ihre Kolleginnen haben gut zu tun. Laut Wikipedia üben in Osinów Dolny von 200 Einwohnern 150 den Frisörberuf aus; die nächst gelegene katholische Kirche befindet sich im nahen Niederwutzen, wo, trotz oder gerade wegen der Diasporasituation ein reges Gemeindeleben herrscht; mit Gottesdiensten, Pfarrabenden und Prozessionen zu Osten und Fronleichnam, wie man allein an den vielen online gestellten Bildern ersehen kann.
Preiswerter Imbiss und billiges Tanken
Renata stammt aus Weißrussland. Und lebt seit rund zehn Jahren nahe der deutschen Grenze, rund 60 Kilometer östlich von Berlin; mit Kindern, Ehemann und Zwergpudel Lulu in einer Plattenbauwohnung aus den frühen siebziger Jahren, als Polen noch zum Reich des Kommunismus gehörte und das Wohnen „im Block“ als Privileg galt. „Vor allem, weil es dort Strom gab und fließendes, wenn auch nicht immer warmes Wasser“, berichten Zeitzeugen gerne.
Doch sind diese Zeiten längst Geschichte, Deutschland ein geeintes Land und seine Grenzen offen, was in Osinów Dolny vor allem Berliner Autofahrer der niedrigen Preise wegen für sich zu nutzen wissen. Den Liter Super Bleifrei gibt es hier für rund 1,35 Euro. Bereits seit einer halben Stunde erneuert Renata bei einer Kundin Dauerwelle und Tönung; für 70 Euro und damit deutlich weniger als in Deutschland. Die Kundin heißt Frau Urbanke, ist eine freundliche ältere Dame aus Finsterwalde in Brandenburg und hat auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit Angela Merkel. Aber dass sie die „nie wählen würde“, und dass die CDU in den letzten Jahren auch „viel falsch gemacht habe“, ohne konkret zu werden. Rund drei Stunden hat Frau Urbanke für ihren Besuch bei Renata eingeplant. „Viele, zumeist ältere Kunden erzählen mir aus ihrem Leben und was sie von der Regierung halten“, wird Renate später berichten. Frisörsalons sind immer auch ein Stückweit Seismographen gesellschaftlicher Stimmungen. Viele deutsche Rentner lebten allein, ohne Kinder, geschieden oder verwitwet, berichtet Renata. Und viele ließen daher bei einem Haarschnitt in Polen neben Geld auch gleich ein paar Sorgen da. Immer öfters sehen sich Renata und ihre Kollegen in der Rolle eines Psychologen oder Lebensberaters. Was aber auch seine positiven Seiten habe. „Denn dadurch konnten wir unfreiwillig unser Deutsch verbessern“, sagt sie augenzwinkernd, während im Hintergrund ein polnischer Schlager läuft und eine Kollegin den Vorraum kehrt.
Günstiges aus Deutschland
Renata arbeitet der Kinder wegen in Teilzeit und verdient relativ gut, sagt sie, manchmal 700 Euro netto, was in etwa dem Vollzeitlohn in einem polnischen Supermarkt entspricht. „Unsere Sprachen sind ähnlich, Polnisch und Weißrussisch“, erklärt Renata, warum es sie schon vor Jahren hierher verschlagen habe; wie viele ihrer Landsleute, die vor der Diktatur und Armut geflohen sind und nun fürchten, in Putins Krieg mithineingezogen zu werden; ebenso Usbeken, Georgier und Albaner, die mit Gartenmöbeln, einem Ölwechsel ohne Voranmeldung und preiswerten Mahlzeiten um deutsche Kunden buhlen. Manche der Händler sprechen Englisch, erstaunlich viele gut Deutsch, was sich in Osteuropa durch nahezu alle Bevölkerungsschichten beobachten lässt. „Futtern wie bei Muttern“ steht in Lettern über einer Imbissbude, daneben ein Parkplatz für die Fernbusse aus Berlin und Hamburg, die regelmäßig hier Halt machen.
Sie fühle sich in Polen wohl, sagt Renata, und dass sie nur ab und an nach Deutschland führe, um dort einzukaufen. Viele Lebensmittel seien im Nachbarland preiswerter und vor allem besser, was selbst unter Polen als offenes Geheimnis gilt. Das Problem: Die Löhne sind im Nachbarland noch immer niedriger als in Deutschland, so dass die Konzerne bei industriell hergestellter Nahrung Abstriche bei den Zutaten machten, kritisiert Renata das Geschäftsgebaren polnischer Lebensmittelimporteure wie Zabka und Dino; geht in den Nebenraum und kommt mit einer Spraydose L`Oreal zurück. Bei knapp 5,70 Euro vor Steuern und Abgaben lag im Jahre 2022 der durchschnittliche Stundenlohn in Polen; ein Sekundarschullehrer verdiente rund 1.300 Euro brutto, heute kaum mehr.
Autos für den Orient
Nach Osinów Dolny mitgekommen ist an diesem Vormittag auch Frau Urbankes Ehemann. Zum Tanken, und um sich eine neue Winterjacke zu kaufen, wie er sagt. Derweil seine Frau beim Frisör sitzt lässt sich Herr Urbanke darußen eine Bratwurst schmecken, zwei Stück mit Brot und Senf für umgerechnet 1,80 Euro. Den Becher Bier gibt es für umgerechnet 80 Cent. Aber nur wenige machen davon Gebrauch. Denn an der Grenze wird neuerdings wieder engmaschiger kotrolliert. „Wegen illegaler Migration und Schiebereien in die Ukraine und nach Russland“, wie ein Beamter der Bundespolizei auf Nachfrage zu verstehen gibt. Alkoholtest inklusive, sobald ein Verdacht bestünde. Besonders gefragt seien in der Ukraine Gebrauchtwagen, deren Preise zuletzt stark gestiegen seien, heißt es. Viele Händler nutzten wohl die weltpolitische Lage, um den Osten mit französischen und deutschen Autos zu versorgen, glaubt indes Herr Urbanke, der früher als Maurer gearbeitet hat.
Einer, der es genauer wissen könnte, ist Renatas Ehemann. Er arbeitet als Fernfahrer, ist viel in Europa unterwegs und bringe „gutes Geld“ nach Hause, sagt seine Frau ein wenig stolz. Die beiden gemeinsamen Kinder besuchen die Grundschule, die in Polen bis zur achten Klasse geht. In der Gemeindeverwaltung von Osinów Dolny sei man froh über die deutschen Kunden, heißt es in der Pressestelle. Dass dadurch Steuern in die öffentlichen Kassen flössen, was sich positiv auf die Infrastruktur auswirke. Auch wenn davon in Osinów Dolny heuer wenig zu sehen ist. Was aber auch täuschen kann, da seit dem Ende des Kommunismus immerhin mehr als 35 Jahre vergangen sind. Und vieles im Stadtbild auf eine zweite Sanierung wartet.
Fotos: Benedikt Vallendar