Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
als umfassend ausgebildeter Jurist wird man von juristischen Themen mitunter selbst in seinen Träumen verfolgt. Neulich träumte ich, dass ich in unserem Schlauchboot auf dem Fluss unterwegs war und von der Wasserschutzpolizei angehalten wurde. “Halt!”, riefen die beiden Beamten, eine junge Frau und ein junger Mann, mir zu. “Sie dürfen hier nicht weiterfahren. Ihr Boot ist ja gar nicht verkehrstüchtig.” Dabei zeigten sie auf den Bug unseres Schiffes. Und nun sah ich es auch: Ein großes Loch klaffte darin. Eigentlich erstaunlich, dass das Boot noch nicht voll Wasser gelaufen war, aber in meinem Traum stellte ich mir diese naheliegende Frage nicht. Stattdessen antwortete ich den beiden Polizisten: “Ich befinde mich in einer Art Notstand.” Sodann berichtete ich ihnen, dass ich zuvor von einem anderen Boot attackiert worden sei, was ich tatsächlich so geträumt hatte. Und angesichts dieser Gefahr, so argumentierte ich, dürfte ich jetzt ausnahmsweise mit dem Loch im Boot weiterfahren. Eine Gefahr sei nämlich der Eintritt eines schadenbringenden Ereignisses bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit. Die beiden Polizisten sahen mich skeptisch an. “Ist das denn wirklich so eine Gefahr?”, fragten sie mich. Da holte ich noch einmal weit aus: “Entscheidend dafür, ob wirklich eine Gefahr vorlieg, ist die ex ante Betrachtung eines objektiven Dritten, d.h. eines neutralen Beobachters von durchschnittlicher Intelligenz.“ Und demnach sei hier doch eindeutig von einer Gefahr auszugehen. Die beiden Beamten sahen sich kurz an und meinten dann: “In Ordnung. Wenn das so ist, dann sind Sie natürlich gerechtfertigt und können weiterfahren. Dann noch gute Fahrt!”
So obskur und widersinnig der Sachverhalt und so zweifelhaft die Subsumtion auch gewesen sein mag, meine juristischen Definitionen immerhin haben gesessen. Selbst im Traum.
Dein Johannes