Scheiben vor Gericht Spezial: Vor 40 Jahren hatte die Neue Deutsche Welle ihren Höhepunkt
Thomas Claer
Zu meinen prägendsten kulturellen Kindheitserlebnissen gehörte zweifellos die Rezeption der Neuen Deutschen Welle, die eine grundlegende Neubestimmung aller Hörgewohnheiten in der populären Musik in Deutschland mit sich brachte. Und das längst nicht nur im Geltungsbereich der Freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Auch wir im Osten bekamen übers Westfernsehen und –radio im Wesentlichen alles mit, jedenfalls das von der NDW, was zum Medienhype wurde, was aber, wie ich später erfahren sollte, eigentlich nur die Spitze des Eisbergs war. Tatsächlich war die Neue Deutsche Welle, wie es z.B. in der Dokumentationsreihe zur deutschen Musikgeschichte “Pop 2000” eindrucksvoll herausgearbeitet wurde, ursprünglich ein Underground-Phänomen, als sich Ende der Siebzigerjahre plötzlich in allen Teilen der alten BRD Musikschaffende dazu aufschwangen, anarchische Rock- und Popmusik mit deutschen Texten entstehen zu lassen. Natürlich ist dann alles dort hineingeflossen, was seinerzeit ohnehin schon en vogue war: Das ganze Punk-Ding war noch nicht lange her, da kam auch schon New Wave – und solche Sachen gab es nun plötzlich auch mit deutschen Texten. Auch wenn es stilistisch kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen war, was damals alles unter dem NDW-Label firmierte. Die Gemeinsamkeit war der ungestüme Dilettantismus, mit dem die Protagonisten allesamt zu Werke gingen. Und gerade dadurch waren sie so gut. Doch witterten die Puristen dieser Bewegung spätestens ab 1982/83 den großen Ausverkauf ihrer Ideale, als immer mehr NDW-Bands und –Stars in Unterhaltungssendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auftraten und so zusehends um die Gunst eines Massenpublikums buhlten.
Für mich als noch nicht einmal Teenager im abgeschotteten Teil Deutschlands hinter der Mauer war aber genau diese NDW-Präsenz im westdeutschen Unterhaltungsfernsehen ein großer Glücksfall, denn wie sonst hätte ich diese aufregend bunten, schrillen und lauten Musikrevolutionäre sonst kennenlernen sollen? Trio mit “Da Da Da”, Nena mit “99 Luftballons”, Peter Schilling mit “Major Tom”, die Spider Murphy Gang mit “Peep Peep”, Geier Sturzflug mit dem Song vom Bruttosozialprodukt, Hubert Kah mit “Sternenhimmel” – sie alle wurden zu meinen Kindheitshelden, weil ich sie in der “Hitparade im ZDF” bei Dieter Thomas Heck gesehen und mit unserem Kassettenrekorder aus dem Westen aufgenommen hatte. Niemand kann sich heute mehr vorstellen, welche Wirkung eine solche Musik beim Stammpublikum dieser Schlagersendung hatte – und natürlich ebenso bei den Zuschauern am Bildschirm, zumal bei uns im Osten. Ich erinnere mich noch genau daran, wie sich mein Vater über das Erscheinungsbild von Trio-Sänger Stephan Remmler aufregte. Wie könne man denn nur so rumlaufen, wenn man ins Fernsehen kommt? In solch einem abgewetzten T-Shirt auf der Bühne stehen und dabei auch noch Kaugummi kauen? Der habe ja wohl überhaupt kein Benehmen! Dabei war mein Vater gerade einmal 13 Jahre älter als der NDW-Star. Aber genau hier verlief der Riss zwischen den Generationen, zwischen der Wiederaufbau-Generation auf der einen und den Achtundsechzigern und Postachtundsechzigern auf der anderen Seite. Für meinen Vater jedenfalls war diese ganze NDW-Musik, wie er sich ausdrückte, “der letzte Husten”. Meine Mutter war da schon aufgeschlossener und erst recht unsere Nachbarin, Frau G. Sie sang sogar begeistert im Treppenhaus “Aha, aha, aha, ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht, aha, aha, da, da, da”, während mein Vater darüber nur den Kopf schüttelte…
Ungefähr 1983 erlebte die Neue Deutsche Welle mit zahlreichen Superhits ihren medialen und kommerziellen Höhepunkt. 1984 kamen dann nur noch “Engel 07” von Hubert Kah und “Terra Titanic” von Peter Schilling – dann war aber endgültig die Luft raus. Spätestens 1985 redete niemand mehr von der Neuen Deutschen Welle.