Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
um zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält, wie es so schön bei Goethe heißt, braucht man eigentlich nur mit offenen Augen durchs Leben zu gehen. Ganz sicher ist es nicht, so wie man es sich vielleicht wünschen würde, die Vernunft, auch wenn diese in den letzten Jahrhunderten und in bestimmten Weltregionen zweifellos eine starke Performance abgeliefert und bedeutende Fortschritte ermöglicht hat. Doch die entscheidenden Antriebsquellen für all das und noch viel mehr dürften wohl eher die sogenannten niederen Instinkte sein, zuallererst der Sexualtrieb. Auch wenn man besser nicht zu leichtfertig von sich selbst auf andere schließen sollte, erscheint es mir doch evident zu sein, dass fast alle zwischenmenschlichen Verhältnisse primär von der zumindest hypothetischen Frage der etwaigen sexuellen Verwertbarkeit des Gegenübers geprägt werden, auch wenn sich das längst nicht jede und jeder eingestehen mag…
Die zweitwichtigste niedere Antriebskraft scheint mir dann aber auch schon das Ressentiment zu sein, der wohl am meisten unterschätzte Bestandteil einer noch zu entwickelnden Welterklärungsformel. Warum handeln Menschen so oft vollkommen gegen ihre eigenen Interessen? Warum hat der homo oeconomicus aus der Wirtschaftswissenschaft einen so begrenzten Erklärungswert? Weil es für gar nicht so wenige Menschen offenbar weitaus reizvoller ist, ihren ungeliebten Mitmenschen zu schaden, als für sich selbst einen Vorteil zu erzielen. Am besten lässt sich dieses Verhaltensmuster an Autokraten beobachten, die dank ihrer ungeheuren Machtfülle weitgehend tun und lassen können, was sie wollen, ohne durch irgendwelche Checks and Balances daran gehindert zu werden. Zwar brächte es für ihr Land und auch für sie selbst eine Menge Vorteile, mit anderen gut auszukommen und friedlich mit ihnen Handel zu treiben, aber sie finden weitaus mehr Gefallen daran, ihre Nachbarländer zu überfallen und Abertausende ihrer Untertanen in den Tod auf dem Schlachtfeld zu schicken.
Oder sie sind entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen der Meinung, dass man sehr hohe Inflation am besten durch sehr niedrige Zinsen bekämpft, auch wenn das Millionen ihrer Untertanen in den wirtschaftlichen Ruin treibt. Dass gleichwohl jeweils die Mehrheit der von ihnen beherrschten Völker unverdrossen weiter hinter ihren erratischen Führern steht, beweist neben der Kraft der Indoktrination nur maßgeblich die Macht des Ressentiments. Natürlich ist nie man selbst schuld, sondern es sind immer die anderen, wenn es im eigenen Leben nicht so gut läuft. Und Politiker, die solche toxischen Narrative verbreiten, werden leider in vielen Ländern, um nicht zu sagen: mehr oder weniger fast überall, bevorzugt gewählt.
Oder man bewohnt ein Fleckchen Erde in bester Lage direkt am Mittelmeer mit herrlichen Stränden. Da könnte man doch zum Beispiel ganz viele Hotels bauen und auf Tourismus setzen, um so endlich einmal den kümmerlichen eigenen Lebensstandard beträchtlich nach oben zu schrauben. Aber stattdessen bastelt man lieber Bomben und verübt Terroranschläge, mordet wehrlose Zivilisten und massakriert selbst kleine Kinder – Hauptsache es geht gegen die Juden, die ja schließlich die alleinige Schuld am eigenen Unglück tragen, weil sie einen prosperierenden Staat aufgebaut haben…
Es ist wie in dem Witz, für dessen Veröffentlichung Deniz Yücel für mehr als ein Jahr in Erdogans Knast gewandert ist: Ein Türke und ein Kurde werden zum Tode verurteilt und dürfen jeweils einen letzten Wunsch äußern. Da sagt der Kurde: “Ich will meine Mutter noch mal sehen.” Und darauf der Türke: ”Der Kurde soll seine Mutter n i c h t noch mal sehen dürfen.”
Und so ist auch hierzulande zu befürchten, dass im nächsten Jahr bei den Landtagswahlen in drei östlichen Bundesländern eine Partei stärkste Kraft wird, die sich daran macht, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abzuschaffen und dringend nötige Zuwanderung zu verhindern, die internationale Investoren abschreckt und so direkt auf wirtschaftlichen Niedergang abzielt. Aber den Wählern dieser Partei kommt es vor allem darauf an, es “denen da oben” mal so richtig heimzuzahlen. Denn irgendwer muss ja schließlich schuld sein am eigenen Unvermögen…
Dein Johannes