Kommerziell

Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen

Liebes Tagebuch,

jede Zeit hat ja bekanntlich ihre Moden. Und zu meiner Jugendzeit gehörte es, zumindest auf meinem gediegenen Bremer Gymnasium, ganz unbedingt zum guten Ton, sich von aller Kunst und insbesondere Musik fernzuhalten, die im Ruf stand, kommerziell zu sein. Mainstream, poppig, glatt und gefällig waren seinerzeit in diesen Kreisen die schlimmsten Schmähbegriffe. Sehr gefragt waren hingegen Underground, Independent und solche Sachen. Offenbar hatte ich solche Bewertungsmaßstäbe vollkommen verinnerlicht, denn wenn mir eine bestimmte Musik gut gefiel, die noch nicht so bekannt war, dann hoffte ich inständig, dass sie auch weiterhin unbekannt bleiben und bitte niemals in die Hitparade oder gar ins Radio gelangen sollte. Wahrscheinlich beglückte es mich auch, so etwas Schönes möglichst nicht mit einem großen Publikum teilen zu müssen, sondern höchstens mit einem kleinen Kreis ausgewiesener Kenner. Idealerweise wollte ich diese Musik sogar ganz für mich allein haben.

Wenn ich heute auf mein früheres Ich zurückblicke, dann fühle ich mich dabei etwas beschämt. So richtig ist das alles aber erst vor ein oder zwei Jahren wieder in mir hochgekommen, als ich mir den ausgezeichneten Podcast “Narzissen und Kakteen” der Musikgruppe Element of Crime angehört habe, die darin ihre Bandgeschichte erzählt. Damals, vor drei Jahrzehnten, hatte ich diese großartige Musik, die zu jener Zeit noch ein Geheimtipp war, für mich entdeckt. Und nichts hatte ich mir mehr gewünscht, als dass sie auch noch möglichst lange unbekannt und ein Geheimtipp bleiben sollte. Wie egoistisch und vollkommen empathielos mein damaliger Wunsch gegenüber meinen Lieblingsmusikern gewesen ist, wurde mir erst beim Anhören des besagten Band-Podcasts klar. Die Musiker lebten nämlich im ersten Jahrzehnt ihres Zusammenwirkens in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen und trachteten naheliegender- und verständlicherweise nicht zuletzt danach, endlich einmal so viel kommerziellen Erfolg mit ihrer Musik zu haben, dass sie davon leben konnten. Noch dazu lag ihnen ständig die Plattenfirma in den Ohren, die einiges Geld in sie investiert hatte und nun die noch viel zu bescheidenen Umsätze beklagte: “Phillip Boa hat schon wieder tausend Platten mehr verkauft als ihr”, soll immer der Spruch ihres Managers Tim Renner gewesen sein. Das hat er wohl so oft gesagt und den Elements damit ein so schlechtes Gewissen gemacht, dass sich in ihnen irgendwann sogar ein geheimer Groll gegen ihren anfangs erfolgreicheren Kollegen Phillip Boa ausbildete…

So falsch eine solche anti-kommerzielle Grundhaltung in all ihren Konsequenzen auch sein mag, so enthält sie doch einen wahren Kern, der sich im Friedrich Schiller-Zitat ausdrückt: “Wenn du nicht allen gefallen kannst, dann versuche wenigen zu gefallen. Vielen gefallen ist schrecklich.” Es stimmt natürlich, dass – von einem ästhetischen Standpunkt aus betrachtet – die Massenkultur meistens nicht viel taugt, abgesehen von ihren wenigen Fällen, die auch von Kennern goutiert werden und die dann somit „allen gefallen“. Aber anders als in früheren Epochen finanziert sich die Kunst heute nun einmal nicht mehr primär durch Mäzenatentum, sondern ist neben allerlei Förderpreisen, die aber gewöhnlich nur in bestimmten Kunstrichtungen verliehen werden und in anderen nicht, maßgeblich auf ihren Verkauf an die jeweilige Zielgruppe angewiesen. Da ist es den Künstlern kaum zu verübeln, wenn sie den einen oder anderen existenzsichernden inhaltlichen Kompromiss eingehen, und andererseits besonders hoch anzurechnen, wenn sie dabei dennoch ihre künstlerische Integrität bewahren können und den Spagat zwischen beidem noch halbwegs passabel hinbekommen.

In der heutigen Zeit sind, wenn ich es richtig sehe, solche etwas snobistischen Attitüden des Vorbehalts gegen die Massenkultur unter jungen Menschen weitgehend verschwunden. Ganz im Gegenteil scheint es inzwischen nur noch um die größte Zahl an Followern oder Kontakten zu gehen. So ist das eben. Die Zeiten ändern sich, und wir uns in ihnen… manchmal gerade nicht (um eine kürzlich im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung gelesene Pointe von Gustav Seibt zu klauen).

Dein Johannes

Veröffentlicht von on Dez. 18th, 2023 und gespeichert unter JOHANNES, LIEBES TAGEBUCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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