Scheiben Spezial: Die Songs des Jahres 2023
Thomas Claer
So etwas haben wir noch nie gemacht: einen Rückblick auf die besten Songs des abgelaufenen Jahres. Doch damit an dieser Stelle nicht immer nur jahraus, jahrein von unseren altbekannten Lieblingen wie Element of Crime, Tocotronic, Björk oder Udo Lindenberg die Rede ist, gehen wir nun auch einmal neue Wege. Aber hoppla: Udo Lindenberg ist, ob man es glaubt oder nicht, auch bei den Hits des Jahres 2023 mit dabei! Dazu gleich unten mehr…
Die Kollegen von der Musikzeitschrift “Diffus” haben also eine Liste der “Top 10 Songs national” mit den dazugehörigen Musikvideos zusammengestellt. Und wir hören uns da einfach mal durch. Unter den Top 10 des Jahres, da sollte doch bestimmt etwas Gutes dabei sein, denkt man sich – und wird bitter enttäuscht. Eigentlich wollte ich zu jedem der zehn Songs ein paar Sätze verlieren, aber das ginge hier nun wirklich entschieden zu weit. Sagen wir es lieber allgemeiner: Damit ein Lied als gut bezeichnet werden kann, darf es zunächst einmal nicht zu vulgär und auch nicht zu sentimental sein. Dieses Kriterium stellt schon eine ziemlich große Hürde dar, denn die meisten Lieder auf der Welt (und auch in dieser Liste) sind wohl entweder das eine oder das andere. Und noch dazu sollte ein gutes Lied einen gewissen Wiedererkennungswert haben, sollte also originell sein, etwa von einer eingängigen Melodie getragen werden, die aber andererseits auch nicht zu gefällig sein darf, denn das wäre dann schon wieder banal…
Um es kurz zu machen, in diesen Top 10 gibt es manchmal ein paar gute Ansätze. Gleich mehrere Songs transportieren sehr unterstützenswerte inhaltliche Botschaften. In “Baba” von Apsilon geht es um eine Vater-Sohn-Beziehung im migrantischen Kontext. Und dabei wird den bekannten und berüchtigten toxischen Männlichkeitsbildern in der Rap-Szene hier zweifellos etwas Positives entgegengesetzt, was natürlich schon per se lobenswert ist.
In “3 Sekunden” von Celine feat. Paula Hartmann wird die immer wieder viel diskutierte männliche Übergriffigkeit gegenüber Frauen angeprangert. Damit haben die beiden jungen Damen natürlich vollkommen recht. Dennoch nimmt man ihnen ihr “Wir wollen einfach nur von Männern in Ruhe gelassen werden” am Ende doch nicht so ganz ab… In zwei weiteren Songs breitet jeweils ein empfindsamer junger Mann mit großer Ausführlichkeit sein Innerstes aus, wobei der vulgäre Rapsong dabei fast noch erträglicher ist als die kitschtriefende Ballade…
Womit wir bei Udo Lindenberg wären. Der große Meister hat sich doch in seinen alten Tagen tatsächlich noch einmal zu einem Duett mit einem Gangsta-Rapper namens Apache 207 herabgelassen. Das war wohl ein Riesen-Hit im letzten Jahr. Ist aber ein ziemlich schwacher Song. Im begleitenden Video steht der Gangsta-Rapper vor Gericht und wird dort wegen Diebstahls und einiger Straßenverkehrsdelikte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die er aber im Hausarrest absitzen darf, egal wo. Und daraufhin nimmt Udo Lindenberg seinen Kumpel kurzerhand mit ins Hotel, in dem er schon seit Jahrzehnten wohnt und sein Geld verprasst, und raucht mit ihm dort auf dem Balkon Zigarren. Nun ja…
Zwei Lieder erinnern ziemlich an die selige Neue Deutsche Welle und werden auch ausdrücklich als “NNDW” kategorisiert. Doch leider fehlt ihnen vollkommen die Frische und das Anarchische der alten NDW. Ein weiterer Song einer jungen Sängerin wird als “Indie” angepriesen, ist aber beim besten Willen nur gähnend langweilig.
Ein letzter Song ist noch übrig: “Die Liebe kommt nicht aus Berlin” von Brutalismus 3000 – eine trashige, schnelle Elektropopnummer, man könnte auch Techno dazu sagen. Dieses Lied ist immerhin ziemlich originell, wenn auch nicht unbedingt überragend. Hat es hierzulande schon jemals einen Hit-Song in (teilweise) slowakischer Sprache gegeben? Es ist wohl das einzige Lied in der Liste, das musikalisch noch halbwegs etwas taugt. Also wenn das die Hits des Jahres sein sollen…
P.S.: Vor einem Jahr habe ich in der entsprechenden Liste für 2022 allerdings ein Lied gefunden, das mir sehr gefallen hat: “Wildberry Lillet” von Nina Chuba. Das ist zwar auch durchaus vulgär, aber dabei angenehm selbstironisch – und so witzig: „Ich will haben, haben, haben!“ Warum gibt es nicht mehr Lieder von dieser Sorte?