Über eine mögliche NATO-Mitgliedschaft Israels im Rahmen der Debatte um Antisemitismus herrscht in Wissenschaft und Politik erstaunliche Einigkeit – dennoch steht das Thema beim Nordatlantischen Bündnis derzeit nicht auf der Agenda
Benedikt Vallendar
Schon in den neunziger Jahren hatte der damalige spanische Ministerpräsident José Maria Aznar von der konservativen Volkspartei (PP) das Thema ins Gespräch gebracht: eine NATO-Mitgliedschaft Israels als „strategische Option“ in der kulturellen, religiösen und politischen Auseinandersetzung mit dem Islam. Im März 2004, noch während der Amtszeit Aznars, hatten muslimische Terroristen in Madrid bei einem Anschlag auf einen Nahverkehrszug Dutzende Menschen im „Namen Allahs“ getötet. Aznar musste zwar danach seinen Posten räumen, doch die Idee einer NATO-Mitgliedschaft Israels im Rahmen der Sicherheitsarchitektur des Westens gegenüber dem Orient war geboren. Und kursiert seither durch die Büros und Denkfabriken führender Politiker, Militärs und Wissenschaftler zwischen Washington, Brüssel und Tel Aviv.
Kaum Ablehnung in der deutschen Politik
Auch in den Presseabteilungen der im deutschen Bundestag vertretenen Parteien sind keine ablehnenden Stimmen gegen eine mögliche NATO-Mitgliedschaft Israels zu vernehmen. Was zeigt, dass darüber weitgehend Konsens herrscht. „Dem demokratischen Staat Israel müsse durch umfassende Sicherheitsgarantien zur Seite gestanden werden, um dessen Existenzrecht zu sichern“, so das einhellige Credo in der deutschen Politik, auch bei AfD, Grünen und Linken. Bis heute bekanntester Israellobbyist auf diplomatischer Ebene war der US-Diplomat und Politologe Ronald D. Asmus (1957 – 2011), zu Lebzeiten einer der einflussreichsten Befürworter der NATO-Osterweiterung. Er profilierte sich wiederholt als Wortführer bei der Aufnahme Israels in die Atlantische Allianz. Asmus hatte argumentiert, dass eine israelische NATO-Mitgliedschaft nicht nur eine psychologische und vertrauensbildende Voraussetzung für den jüdischen Staat darstellen würde, um auf lange Sicht überhaupt einen politischen Frieden im Nahen Osten schließen zu können.
Signal an den Iran
Die NATO-Mitgliedschaft impliziere darüber hinaus eine klare, abschreckende Botschaft an die Adresse Teherans, militärisch gegen den jüdischen Staat vorzugehen, so Asmus. Darüber dass Israel durch eine NATO-Mitgliedschaft am besten gegen Vernichtungsambitionen der muslimischen Welt geschützt wäre, herrscht auch weitgehende Übereinstimmung in den Brüsseler Bündnisetagen, was dort allein wegen Rücksichtnahme auf das NATO-Mitglied Türkei und strategisch wichtiger Verbindungen zu ölreichen Staaten nicht offen kommuniziert werden, so die Politikwissenschaftlerin Banu Avuk von der Universität Bonn. Tatsächlich scheinen sich NATO und Israel in der Praxis allmählich anzunähern.
Strategische Überlegungen
Sichtbarster Ausdruck war der Besuch Jaap de Hoop Scheffers (Jahrgang 1948), der als erster NATO-Generalsekretär Israel seine Aufwartung machte. Dennoch lässt der derzeitige Modus Operandi der Israel-NATO-Beziehungen vorerst keine Schritte hin zu einer formellen Mitgliedschaft erkennen. Von beiden Seiten wird aber die Notwendigkeit betont, die politische wie militärstrategische Kooperation zu erweitern. De Hoop Scheffer bezeichnete diese Aufgabe seinerzeit gar als »strategischen Imperativ«. Auch Jerusalem zeigt sich bestrebt, von der Beziehungsebene des Mittelmeerdialogs zu der einer »echten Partnerschaft« zu gelangen. Eine israelische Mitgliedschaft steht indes nicht auf der Agenda, wohl auch weil sich alle israelische Regierungen für den „Fall der Fälle“ jede militärische Option auch ohne Rücksichtnahme auf Bündnispartner offenhalten will, wie allein der jüngste israelische Militäreinsatz im Gazastreifen gezeigt hat. Und bei dem sicherlich auch kultur- und religionsgeschichtliche Faktoren eine Rolle spielen. Während die Bündnismehrheit, seinen christlich-abendländischen Traditionen folgende, eher im Defensivmodus verharrt und nur im Ernstfall „zuschlägt“, kann Israel nur überleben, indem es seinen Feinden in der arabischen Welt signalisiert, proaktiv und gegebenenfalls auch ohne Rücksichtnahme auf UN-Konventionen die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten.
Vorteil für die NATO
Auch für die NATO scheint es sinnvoll, den Schulterschluss mit Israel zu suchen. Jerusalem verfügt über jahrzehntelange Erfahrungen in der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und die dabei einzusetzenden taktischen Mittel. Dieser Umstand könnte für die NATO-Mitglieder von ebenso großem Nutzen sein, wie – mit Blick auf Teheran – der militär-technologische Austausch im Bereich der Raketenabwehr, wo Jerusalem mit seinen Arrow-Systemen bereits über einen beträchtlichen Entwicklungsstand verfügt.
Langfristig könnte sich auch die Möglichkeit ergeben, im Falle einer militärischen NATO-Intervention im Nahen Osten Stützpunkte auf israelischem Territorium in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus wurde aus israelischen Sicherheitskreisen bereits die Bereitschaft verlautbart, beispielsweise bei der Ausbildung von Sicherheitskräften für den Irak behilflich zu sein. Dies alles kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hinsichtlich einer etwaigen israelischen NATO-Mitgliedschaft in der Allianz auch Vorbehalte gibt. Die von Washington propagierte Transformation der NATO hin zu einem funktional und global orientierten Bündnis wird längst nicht von allen NATO-Partnern geteilt. Besonders Frankreich sieht hier die Gefahr, dass die NATO zu einem Weltpolizisten unter amerikanischer Führung gemacht werden soll. Auch bestehen innerhalb der NATO unterschiedliche Sichtweisen und Interessen hinsichtlich der Rolle der Organisation im Nahen Osten. Angesichts ebenso unterschiedlicher Auffassungen über Israels Sicherheitsbedürfnisse könnte sich dessen Mitgliedschaft – und die vorausgehenden Diskussionen und Verhandlungen – als Ursache einer NATO-internen Polarisierung und vermutlich erneuter transatlantischer Spannungen erweisen.