Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
der gelernte Jurist Franz Kafka mag ein großartiger Schriftsteller gewesen sein, oder vielmehr: Er war es ganz sicher. Doch habe ich leider nie so richtig Zugang zu ihm und seinem Werk gefunden. Na gut, die “Verwandlung” habe ich natürlich gelesen und fand sie auch ziemlich gut. Aber an seine Romane, da mochte ich mich bisher einfach nicht ransetzen. Nicht einmal jetzt, im Kafka-Jahr anlässlich seines 100. Todestages, reizt es mich sonderlich, mir endlich einmal das “Schloss” oder den “Prozess” vorzunehmen. So richtig in Berührung gekommen bin ich – neben der besagten “Verwandlung” – eigentlich nur als Jugendlicher mit einer seiner Kurzgeschichten, was bei mir aber vor allem heftige Verwirrung hervorgerufen hat. Und das kam so:
Ungefähr in der Endphase der 11. Klasse hatte ich eine Verabredung mit einer Mitschülerin im Bremer Bürgerpark. Als ein “Date” im eigentlichen Sinne würde ich es aber nicht bezeichnen. Zwar hatte sie schon nach manchen Wortgefechten im Deutsch-Leistungskurs zu mir gesagt: “Ich glaub, wir beide sollten uns auch mal am Nachmittag treffen”, worauf ich immer mit freudiger Zustimmung reagierte. Und eines Tages haben wir es dann wahr gemacht. Doch war es, wobei ich hier gesichert nur für mich sprechen kann, eine primär intellektuelle Anziehung zwischen uns. Dass ich sie darüber hinaus auch überaus erotisch fand und insbesondere von ihren punktuell stark ausgeprägten körperlichen Rundungen fasziniert war, das spielte für mich nur eine untergeordnete Rolle. So seltsam war ich damals drauf… Vor allem aber lag es wohl auch daran, dass ich während der gesamten Oberstufenzeit so leidenschaftlich wie aussichtslos in ihre beste Freundin verliebt war, die meine Banknachbarin im Mathe-Unterricht war. Und die habe ich leider niemals außerhalb der Schule getroffen…
Wir saßen oder lagen also an diesem wunderschönen Frühlingstag im Jahr 1990 auf einer Rasenfläche im Bürgerpark auf unseren abgestreiften Jacken. Die Fahrräder hatten wir an einen Baum gestellt. Um uns herum summte und brummte und zwitscherte es. Die Enten am Ufer des kleinen Teichs waren auf sehr explizite Weise miteinander zugange. Während ich diesem Treiben zunächst kaum Beachtung schenkte, wanderte der Blick meiner Gesprächspartnerin immer wieder zu den Enten, und dabei lächelte sie mir zu. Unsere Unterhaltung drehte sich, wenn ich mich richtig erinnere, hauptsächlich um philosophische, politische und literarische Themen.
Und dann zog sie irgendwann ein schmales Bändchen aus ihrem Rucksack. Es waren die gesammelten Kurzerzählungen von Franz Kafka. Und sie meinte: “Diese kurze Geschichte muss ich dir unbedingt vorlesen. Die ist sooo toll.” Es war irgendwas mit Baumstämmen im Schnee, die übereinander oder nebeneinander lagen. Der erste Satz hatte nach meiner Erinnerung gelautet: “Sind wir nicht wie Baumstämme im Schnee?” Sie lagen eng aneinander oder auch nicht. Und der letzte Satz lautete, glaube ich: “Aber auch das ist nur scheinbar.” Sie hatte mir die Geschichte viel zu schnell vorgelesen. Ich begriff rein gar nichts von ihr. Aber auch wenn sie sie langsamer gelesen hätte, hätte ich wohl nicht viel verstanden. Wahrscheinlich liegt mir Kafka einfach nicht so…
Noch heute frage ich mich manchmal, was mir meine Gesprächspartnerin damals mit dieser Geschichte sagen wollte. Keine Ahnung! Aber sie jetzt einfach mal zu googeln, also die Kafka-Geschichte (ganz bestimmt würde ich sie finden), und neu darüber nachzudenken, dazu kann ich mich einfach nicht aufraffen. Wen ich hingegen schon häufiger gegoogelt habe, das ist meine damalige Gesprächspartnerin. Während es von ihrer besten Freundin, in die ich so verliebt gewesen bin, im ganzen Internet keine Spur gibt, ist meine damalige Gesprächspartnerin dort sogar ziemlich prominent vertreten: als Gender-Forscherin mit eigener Homepage, zahlreichen Veröffentlichungen und Dozentenstelle an einer bedeutenden Fern-Uni. Ob sie sich wohl heute noch für Franz Kafka interessiert?
Dein Johannes