Schöngezoomt

Scheiben Spezial: Vor 40 Jahren erschien „1001 Nacht“ von Klaus Lage

Thomas Claer

„Du wolltest dir bloß den Abend vertreiben…“ Mit diesen Worten beginnt der berühmteste Song des heute 74-jährigen singenden Sozialarbeiters Klaus Lage, der als 20-Jähriger seiner niedersächsischen Heimatstadt Soltau den Rücken kehrte und sich wie so viele junge Westdeutsche seiner Generation im Aussteiger-Paradies West-Berlin ansiedelte. Dort jobbte er in sozialen Einrichtungen sowie als Erzieher in einem Kinderheim und machte nebenher als Sänger und Gitarrist in diversen Formationen von sich reden. Bis er dann in den Achtzigern eine erfolgreiche Solo-Karriere startete, zunächst mehr als Liedermacher, bald darauf als Kopf und Namensgeber einer klassischen Rockband. Es dauerte nicht lange, und der kleinwüchsig-untersetzte Vollbartträger mit der großartigen Soulstimme gehörte mit Single-Hits wie „1001 Nacht“, „Monopoli“, und „Faust auf Faust“ zu den ganz großen Popstars im letzten Jahrzehnt vor der deutschen Wiedervereinigung.

Dabei machten ihn seine oftmals sehr direkten und anschaulichen Texte über Alltagsgeschichten bis hin zu fragwürdigen Details (Schweißperlen, Gerüche von Haaren) und überkorrekten Ausdeutungen von Frauentypsgeschmacksfragen („Mit meinen Augen“) allerdings angreifbar – und sorgten nicht zuletzt für reichlich Hohn und Spott seiner Kritiker, denen er als gemütlicher Kumpeltyp von nebenan wohl auch einfach nicht glamourös genug für die Popkultur erschien… Als besonders umstritten galt von jeher auch der Text seines besagten Erfolgstitels „1001 Nacht“: Wie Geschwister hatten das lyrische Ich und die Nachbarstochter ihre Kindheit miteinander verbracht, vielerlei Freizeitaktivitäten gemeinsam unternommen, ohne jemals mehr als ein rein kameradschaftliches Interesse füreinander zu entwickeln („Wir waren nur Freunde und wollten’s auch bleiben“). Doch dann, so heißt es im Songtext, habe es plötzlich „Zoom gemacht“ – und sie seien ineinander verliebt gewesen. Eine doch reichlich unwahrscheinliche Konstellation, so denkt man sich. Schließlich hat doch die Humanethologie schon vor Jahrzehnten nachgewiesen, dass eine große Nähe in Kindheitstagen zuverlässig jedes spätere sexuelle Begehren der Betreffenden füreinander ausschließt, was offenbar einen natürlichen Schutzmechanismus gegen Inzestrisiken, die bei zu großer genetischer Ähnlichkeit bestünden, zur Vermeidung von Erbkrankheiten darstellt.

Ist also Klaus Lages Geschichte von „Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert“ letztlich nur Bullshit? Nein, nicht ganz. Zwar ist es zutreffend, dass sich Verliebtheit, wie es z.B. im berüchtigten 44. Kapitel von „Die Welt als Wille und Vorstellung“ des Philosophen Arthur Schopenhauer (1789-1860) mit dem Titel „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ heißt, zwischen zwei Menschen in aller Regel sofort bei ihrer ersten Begegnung, konkret bei ihrem ersten Blickkontakt, einstellt – oder gar nicht. Doch hat vor kurzem eine soziologische Studie ergeben, dass die Mehrheit aller hierzulande eingegangenen Partnerschaften unter Personen stattfinden, die sich bereits seit langen Jahren gekannt und anfänglich keineswegs ineinander verliebt gewesen sein sollen. Wie kann das sein? Hat also doch Klaus Lage Recht, und Schopenhauer und die Humanethologie haben Unrecht?! Zur Auflösung dieses bei näherer Betrachtung nur scheinbaren Widerspruchs sollte man sich vergägenwärtigen, dass vermutlich nur ein relativ kleiner Anteil aller Menschen in seiner enthusiastischen Verliebtheit auch auf Erwiderung beim jeweiligen Objekt seiner Begierde hoffen darf. Infolgedessen ist es naheliegend, dass sich die relativ Vielen, die in ihren primären Ambitionen leer ausgehen, dann schließlich – quasi sekundär –  in pragmatischer Absicht untereinander zusammenfinden und sich ihr jeweiliges Gegenüber am Ende sprichwörtlich schöntrinken oder auch schönreden oder aber – wie im Song von Klaus Lage – schönzoomen. So gesehen beruht der große Erfolg von „1001 Nacht“ womöglich auch darauf, dass hier ein reichlich beschönigendes Narrativ verbreitet wird. Denn wohl mancher wird sich gerne darin wiedererkennen, dass es bei ihm (oder ihr) nun einmal plötzlich und unerwartet „Zoom“ gemacht habe – wie vor 40 Jahren im Song von Klaus Lage.

Veröffentlicht von on Jul 22nd, 2024 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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