Lückenschluss im Grundgesetz

H.-Günter Heiden dokumentiert den Kampf um Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG

Matthias Wiemers

Die Reihe Beltz Juventa aus dem Weinheimer Beltz Verlag dokumentiert seit Jahrzehnten wichtige Entwicklungen in der Sozialpolitik und den Sozialwissenschaften. Nunmehr hat mit H.-Günter Heiden ein langjähriger Teilnehmer der Behindertenbewegung einen Vorgang nachgewiesen, der auch nichtbehinderten Juristen bekannt sein sollte, aber vermutlich bisher nicht ins Bewusstsein vorgerückt war: die Frage nämlich, wie lange eigentlich bereits das explizite Benachteiligungsverbot zugunsten Behinderter in Art. 3 GG steht und wie es überhaupt dorthin gelangt ist.
Die Älteren unter uns mögen sich noch daran erinnern, dass anlässlich der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten „BRD“ und „DDR“ zum 3. Oktober 1990 zunächst ein Streit darüber entbrannt war, ob die DDR nun der Bundesrepublik nach Art. 23 a. F. GG beitreten solle oder ob eine Wiedervereinigung nach Art. 146 GG, dem Schlussartikel des GG erfolgen sollte, was zwingend die Neuschaffung einer Gesamtdeutschen Verfassung nach sich gezogen hätte. Zur Austragung dieses Streites wurden bereits zur Jahreswende 89/90 zahlreiche staatsrechtliche Experten aufgeboten und fand im Frühjahr 1990 eine Sondertagung der Staatsrechtslehrervereinigung statt (siehe ausführlich den § 135 von Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V (2000), wobei sich die Konservativen durchsetzten und sodann ein Beitritt nach Art. 23 GG a. F. erfolgte. Aber so ganz glatt lief die Sache nicht ab, es wurde – schließlich hatte auch der maßgeblich von Wolfgang Schäuble (CDU) ausgehandelte Einigungsvertrag zahlreiche Abweichungen vom gedruckten Text des GG vorgesehen – eine „Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat“ (GVK) eingerichtet, der für den Bundestag Rupert Scholz (CDU) und für den Bundesrat Henning Voscherau (SPD) vorsaßen. Im Ergebnis wurden zwar einige Verfassungsänderungen vorgeschlagen, aber das Grundgesetz war gleichwohl „mit blauem Auge davongekommen“ (Josef Isensee, NJW 1993).
An diese „Verfassungsentwicklung“ (Brun-Otto Bryde) knüpft nun der jetzt vorgelegte Band an, der schildert, wie das Projekt der Stärkung von Behindertenrechten auf Verfassungsebene, das sich nur teilweise mit der Arbeit der GVK schnitt, mit einer gewissen Verzögerung doch noch zum Erfolg gebracht werden konnte. Erst im Jahr nach der Verabschiedung des Katalogs von Verfassungsänderungen durch die GVK im Jahre 1993, nämlich 1994, wurde Artikel 3 Abs. 3 GG um den folgenden Satz ergänzt: “Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Dieser schlichte Satz fügt sich wunderbar ein in das Gefüge, das der vorherige Satz 1 weitgehend mitbestimmt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“
Dem Autor Heiden gelingt es in seiner Darstellung, die verfassungspolitische Entwicklung, die zu dieser Ergänzung führte, nahezu minutiös nachzuweisen. Auf Inhalte soll hier nicht weiter eingegangen werden, da sich der Autor auch bewusst selbst als Akteur der Behindertenbewegung darstellt (und auch – zum Teil zwischen den Zeilen – deutlich wird, dass in der Behindertenbewegung auch nicht immer Einigkeit in den Zielsetzungen bestand). Deutlich wird bei der Lektüre auch, dass zwar die in der GVK unterlegene SPD die Verfassungsänderung maßgeblich vorangetrieben hat, namentlich der langjährige Spitzenpolitiker Hans-Jochen Vogel, dass der Durchbruch aber erst mit der Beauftragung eines parteipolitisch den Unionsparteien zuzuordnenden Gutachters (Matthias Herdegen) gekommen schien (vgl. S. 119 ff., 162 ff.). Es greift allerdings zu kurz, das Umschwenken der Unionsparteien allein wahltaktischen Überlegungen des Vorsitzenden Helmut Kohl anlässlich der Bundestagswahlen 1994 zuzuschreiben (vgl. S. 165 f., 192). Es könnte sich schlicht um eine mit Verzögerung gewonnene Einsicht gehandelt haben, dass das Auslassen der Behinderten im bisherigen Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ein Versehen der Väter und Mütter des GG gewesen ist, das dem Charakter des GG als einer Antwort auf das Unrechtssystem des Nationalsozialismus einfach nicht entsprochen hatte. Manch Peinlichkeit in den in dem Band nachgewiesenen Debatten im Deutschen Bundestag hätten sich Union und FDP freilich ersparen können, wenn sie über diese verfassungshistorische Frage intensiver nachgedacht hätten. Diese Entwicklung nachgewiesen zu haben, ist das Verdienst des Autors H.-Günter Heiden. Für alle diejenigen, die sich namentlich in Forschung und Lehre mit Behindertenrechten zu beschäftigen haben, schließt der Band eine wichtige Lücke, die hoffentlich auch von den GG-Kommentaren bald aufgefüllt wird.
Gewünscht hätte man sich ein Sach- und Personenverzeichnis.

H.-Günter Heiden
Behindertenrechte in die Verfassung
Beltz / Juventa 2024
222 Seiten; 38,00 Euro
ISBN: 978-3-7799-7624-0

Veröffentlicht von on Aug 26th, 2024 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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