Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
darauf habe ich schon lange gewartet. Endlich einmal gab es am vorigen Mittwoch in der Süddeutschen Zeitung einen langen Artikel, der die Leiden, Sorgen und Nöte von rot-grün-blinden Menschen thematisiert. Und dieser Artikel stand im Sportteil. Ein Fußballspieler vom SC Freiburg, der manchmal ein Riesenproblem mit ähnlichfarbigen Spielkleidungen hat, hat sich darin als rot-grün-blind geoutet – als einer von bisher erst ganz wenigen Bundesligspielern. Dabei ist statistisch gesehen jeder zwölfte Mann und jede 200. Frau hierzulande davon betroffen, also vermutlich mehr als etwa Laktoseintolerante, Trans-Personen oder Menschen im Rollstuhl (wenn auch mutmaßlich weniger als Linkshänder oder Homosexuelle). Doch ist von den Rot-Grün-Blinden als schützenswerter Minderheit bislang noch nie die Rede gewesen.
Nun habe ich also erstmals erfahren, dass es auch dem besagten Freiburger Fußballer so wie mir geht, wenn er vor Zugtoiletten steht und nicht weiß, ob sie frei oder besetzt sind, weil das nur an einem winzigen Farbfeld über dem Türdrücker zu erkennen ist. Das kann einen leicht in peinliche Situationen bringen. Genau wie an der Supermarktkasse, wenn die Kassiererin mich anblafft, dass hier geschlossen sei und ob ich denn keine Augen im Kopf hätte, da leuchte doch die Lampe in rot. Ich muss auch immer meine Frau fragen, ob der Akku meiner elektrischen Zahnbürste oder der unserer Digitalkamera oder der unserer Haarschneidemaschine schon vollständig aufgeladen ist, denn das erkennt man nur daran, dass das kleine Lämpchen grün statt rot leuchtet. Jedenfalls wenn man nicht gerade rot-grün-blind ist. Gar nicht reden will ich von all den Grafiken und Diagrammen in der Zeitung und im Internet, bei denen ich die Farbnuancen der Felder und Säulen nicht unterscheiden kann. Gestern beim Spaziergang in Potsdam am Griebnitzsee hätte ich gerne gewusst, welche Abschnitte des Uferwegs frei zugänglich (grün eingefärbt) oder nicht zugänglich (rot eingefärbt) sind, wurde aber aus den für mich sehr ähnlichen Farbtönen auf dem Hinweisschild leider nicht schlau. Ich habe auch damals in der Schule meine einzige 5 in einer Geographie-Arbeit bekommen, wo man unterschiedlich eingefärbte Balken irgendwohin zuordnen sollte und ich die Farben nicht richtig erkennen und benennen konnte…
Wohl beinahe alle Alltagsgegenstände sind inzwischen auch linkshändergerecht gefertigt. Es darf nicht mehr „Meine Damen und Herren“ gesagt werden, um nicht die Gefühle von Trans-Menschen zu verletzen. Und fast alle Milchprodukte gibt es auch in der Variante für Laktoseintolerante. Nur an uns Rot-Grün-Blinde hat bisher noch niemand gedacht. Warum eigentlich nicht? Wahrscheinlich, weil es uns unangenehm ist, das selbst anzusprechen. Man schämt sich irgendwie und möchte es am liebsten verbergen. So wie früher ja auch die Linkshänder, Homosexuellen, Transpersonen und Laktoseintoleranten. Nur dass uns Rot-Grün-Blinden offenbar noch immer das Selbstbewusstsein fehlt, sich dazu zu bekennen und es offensiv zu vertreten. Könnte es daran liegen, dass nur ganz wenige Frauen und fast nur Männer betroffen sind, die nicht so gerne ihre Schwächen an die große Glocke hängen? Vielleicht ändert sich ja nun etwas durch den Freiburger Fußballspieler. Werden sich bald auch andere Prominente als rot-grün-blind outen? Noch wage ich mich nur im Schutze der Anonymität dieser Kolumne aus der Deckung…
Dein Johannes