Michael Grüttner legt eine umfassende Studie über „Die Universitäten im Dritten Reich“ vor
Matthias Wiemers
Wir sprechen gegenwärtig seit mehreren Jahren von einer Überakademisierung und teilwiese von einem „Akademisierungswahn“ (Julian Nida-Rümelin). Einen gewaltigen Akademisierungsschub gab es bereits in der ersten deutschen Demokratie, nach dem Ersten Weltkrieg. Es war die Zeit, als die Studentenwerke entstanden und wo etwa studentische Korporationen neu gegründet wurden, weil die bestehenden plötzlich aus allen Nähten platzten (Dies gilt vor allem für die katholisch-konfessionellen Verbindungen, die über die Zentrumspartei mit der Weimarer Republik mannigfach verbunden waren.).
Nach einer Einleitung stellt der Autor zunächst in einem ersten Kapitel die Situation der „Universitäten vor der nationalsozialistischen Machübernahme“ dar, also in der schon angesprochenen Weimarer Republik. Dabei bleiben die technischen Hochschulen außer Betracht und werden nur die damals 23 Universitäten im Deutschen Reich betrachtet, von denen sich insgesamt 12 im damals dominanten Preußen befanden: Berlin, Breslau, Königsberg, Kiel, Greifswald, Halle, Münster, Köln, Bonn, Marburg und Frankfurt am Main, Göttingen (außerhalb Preußens gab es: München, Erlangen und Würzburg (Bayern), Tübingen (Württemberg), Freiburg und Heidelberg (Baden), Gießen (Hessen), Leipzig (Sachen), Jena (Thüringen), Rostock (Mecklenburg) und Hamburg. Deutlich wird schon für die Weimarer Zeit der besonders große Überhang Habilitierter in den Medizinischen Fakultäten. Hier war es allerdings üblich, das man nach sechs Jahren den Professorentitel (Ernennung zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor) von seiner Fakultät erhielt (S. 19).
Nach zeitgenössischen Schätzungen war die Zahl der Hochschulabsolventen am Ende der Weimarer Republik dreimal so hoch wie der Bedarf an Akademikern (S. 51).
Das zweite Kapitel ist der Darstellung der nationalsozialistischen Machtübernahme an den Universitäten gewidmet, beginnend mit einer Darstellung der Politik der Gleichschaltung (S. 57 ff.). Deutlich wird, dass es beidem dann anbrechenden Kampf auch um einen Generationenkonflikt ging. Sodann wurde aber durch das euphemistisch so bezeichnete Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 viele jüdische und Hochschullehrer mit jüdischer Abstammung aus ihren Ämtern gedrängt (S. 86 ff.)
Im dritten Kapitel wird ein Blick in die nationalsozialistische Hochschulpolitik geworfen, und zwar in Strukturen, Ziele und Akteure (S. 118 ff.). Hier lernt der Leser die allgemein für das Dritte Reich kennzeichnende Ämterhäufung und Organisationsvielfalt unter der besonderen Perspektive der Hochschulpolitik. Gezeigt werden Tendenzen der totalen (Partei-)Politisierung und ihre Grenzen (wobei die Grenzen teilweise auch in der zeitlich kurzen Spanne der „Tausend Jahre“ lagen. So konnte etwa eine SS-Universität in Prag aus Zeitmangel nicht realisiert werden.
Eher in den Innenraum der Hochschulen blickt das vierte Kapitel, worin „Die Universität im Kraftfeld der Politik“ dargestellt wird (S. 212 ff.). Vor allem geht es hier um die Folgen der Einführung des Führerprinzips für die innere Struktur der Hochschulen und ihr Verhältnis zu Staat und Partei nach Außen.
Im Fokus des fünften Kapitels stehen sodann die Hochschullehrer als Personengruppe, als „Der Lehrkörper“ (S. 295 ff.). Zentral ist hier eine Typologie der Hochschullehrer im Dritten Reich, die Grüttner in diesem Kapitel bildet:
– aktive Nationalsozialisten,
– Nationalkonservative,
– fachorientierte Wissenschaftler,
– karriereorientierte Opportunisten und
– Regimekritiker.
Diese Idealtypen wiesen insofern durchlässige Grenzen auf, als sich der Vertreter eines Typus im Laufe des Dritten Reichs zu einem anderen entwickeln konnte (S. 332 ff.).
Der nächste Abschnitt ist dem wissenschaftlichen Nachwuchs gewidmet (S. 342 ff.), wo deutlich wird, dass die „Überfüllungskrise“ and en Hochschulen eine rigorose (vor allem politische) Auslese des Nachwuchses ermöglichte. Deutlich wird hier auch, dass die größte Not im Hinblick auf den entstehenden Personalmangel bei den Rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten entstanden war, wie sich aus einer zitierten Studie des Jahres 1943 ergibt (S. 351). Zur Erklärung dieser Situation werden Erklärungsversuche unternommen, worin deutlich wird, dass der Nachwuchs aus diesen Fachbereichen bessere Alternativen in Industrie und Militär, aber auch die politische Überprüfung der Habilitierten zurückgeführt (S. 352). Man könnte hier aber auch einfach annehmen, dass das NS-System einen gewaltigen Verwaltungsapparat hervorgebracht hat und – ganz abgesehen von den Erfordernissen des Krieges – zudem Wissenschaftler namentlich der Rechtswissenschaften beim Regime nicht besonders hoch im Kurs standen.
Im letzten Kapitel blickt dann auch Grüttner noch einmal auf die „Wissenschaft“ als Ganzes (S. 377 ff.) und fragt danach, welche Bedeutung überhaupt der Wissenschaft im Verhältnis zum Nationalsozialismus zukam und wie erfolgreich die Wissenschaft gewesen ist. Hier finden gerade Juristen nochmals wichtige Hinweise auf Positionierungen von Vertretern der Rechtswissenschaft, die in der Nachkriegszeit durchaus noch eine (gewichtige) Rolle spielten. Beenden wir den Überblick hier und verwiesen auf die Lektüre.
Michael Grüttner ist übrigens selbst einer von denen, die es in der Weimarer Republik schon einmal in großer Zahl gegeben hat: ein habilitierter Wissenschaftler ohne Lehrstuhl. Sein persönliches Beispiel zeigt zugleich, was man erreichen kann, wenn das Streben nach Wahrheit und Erkenntnis im Vordergrund steht und nicht die Verbeamtung und eine solcherart gesicherte Lebensstellung. Diese Einzelfallbetrachtung lässt sich freilich nicht verallgemeinern, und so werden damals wie heute kollektive Forderungen nach einer Besserstellung von Privatdozenten erhoben. Grüttners Arbeit hat gezeigt, wie der Nationalsozialismus diese Forderungen beantwortete. Aber auch heute gilt es, die Eigenverantwortung der Betroffenen in einem überzüchteten öffentlichen Hochschulwesen zu betonen und einzusehen, dass dieses Hochschulwesen unbedingt schrumpfen muss, wollen wir die Herausforderungen des Tages wie auch der Zukunft angemessen erfüllen.
Der Autor hat – nach mehreren einschlägigen Vorarbeiten – darunter die Veröffentlichung „Brandstifter und Biedermänner“ über die Friedensjahre des Dritten Reichs (2014 bei Klett-Cotta, textidentisch mit dem einschlägigen Band 19 des „Gebhard“), die ich im letzten Jahr gelesen habe – die wohl maßgebliche Studie zum Thema verfasst. Juristinnen und Juristen, die sich für die Geschichte ihres Fachs interessieren, können hier wichtige Kontexte auffinden.
Michael Grüttner
Talar und Hakenkreuz. Die Universitäten im Dritten Reich
Verlag C.H. Beck, 2024
704 Seiten; 44,00 Euro
ISBN: 978-3-406-81342-9