Mr. Hamburger Szene

Scheiben Spezial: Zum 30. Todestag von Wilken F. Dincklage

Thomas Claer

Die „Hamburger Szene“ war in den Siebzigern so etwas Ähnliches wie später die „Neue Deutsche Welle“ in den Achtzigern oder die „Hamburger Schule“ in den Neunzigern: ein neues großes Musik-Ding, das für alle Beteiligten zum Label wurde; als Schlagwort erfunden jeweils von Musikjournalisten. Um 1973 herum hatte sich rund um die Hamburger Kneipe „Onkel Pö“ ein „Jazz- und Spaßmusikerklüngel“ (Wikipedia) gebildet, der vorwiegend Dixiland-Jazz mit Elementen der Rock- und Popmusik kombinierte; sehr schön textlich zusammengfasst in Udo Lindenbergs Titelstück seiner gleichnamigen LP „Alles klar auf der Andrea Doria“. Und eine zentrale Gestalt in dieser seit ca. 1975 so genannten „Hamburger Szene“ war der umtriebige Wilken F. Dincklage (1942-1994), genannt der dicke Willem, der als Musiker, Radiomoderator, Musikproduzent, Schauspieler und Unternehmer nahezu überall irgendwie mitmischte. Noch dazu wurde er zum Herbergsvater der Szene, indem er 1972, gemeinsam mit dem Toningenieur Conny Plank, eine prächtige alte Villa in Hamburg-Winterhude mietete (das ehemalige Privathaus des Kanadischen Botschafters), dort den Kraut-Musikverlag gründete und eine große Zahl junger Künstler bei sich einquartierte.

Beinahe alles, was damals Rang und Namen in Hamburgs Musikszene hatte oder noch kriegen sollte, wohnte zumindest vorübergehend in Willems berühmter WG in der so genannten „Villa Kunterbunt“: Udo Lindenberg, Otto, Marius Müller-Westernhagen, Gottfried Böttger, Lonzo Westphal, Steffi Stephan, Peter Petrel und weitere seiner Kollegen aus der Rentnerband. Zeitweise hatte die WG 14 Bewohner. Als Nina Hagen zum Jahreswechsel 1976/77 in den Westen kam, fand sie ebenfalls Unterschlupf in Willems WG, blieb dort aber nicht lange. Und während ihr galanter Mitbewohner Otto Waalkes ihr Hamburg zeigte, schrieb ihr WG-Genosse Marius Müller-Westernhagen später über sie den leicht gehässigen Song „Guten Tag, ich bin Gerti aus der DDR“.

Aber zurück zu Willem, der in seiner Jugend eine Ausbildung zum Teeverkoster absolviert hatte und als Kaufmann u.a. als Ostblock-Experte eines Industriekonzerns tätig war. (Angeblich konnte er sich in acht Sprachen fließend unterhalten.) Neben seinem Job als Musikverleger pendelte Willem seit 1972 zwischen Hamburg und Saarbrücken, wo er als kundiger Musikjournalist im Hörfunkprogrramm des Saarländischen Rundfunks die Sendung „Pop Corner“ moderierte und dort vornehmlich über die Hamburger Musikszene berichtete. Bald darauf ging Willem, der selbst Banjo und Gitarre spielte, auch eigene musikalische Wege und veröffentlichte mehre Singles und später auch Langspielplatten. Zu einer der Hymnen der „Hamburger Szene“ avancierte 1975 sein unter dem Pseudonym „Daddy’s Group“ erschienener Song „Lass die Morgensonne (endlich untergehn)“. Später allerdings geriet er mit Liedern wie „Tarzan ist wieder da“ (1977) immer mehr auf die Blödel-Schiene. In den Achtzigern wurde Willem dann zum gefeierten Radio-Moderator beim NDR („Hits mit Willem“, „Norddeutsche Top Fofftein“, „Musikraten und Singen“) und wirkte in mehreren Filmen als Schauspieler mit, so in der legendären Szene in der Rockerkneipe „Chrome de la Chrome“ im ersten Otto-Film (1985). Nach Mauerfall und Wiedervereinigung moderierte Willem für Antenne Mecklenburg-Vorpommern und engagierte sich in der Stadt Wismar.

Vor 30 Jahren, am 18. Oktober 1994, starb Wilken F. Dincklage im Alter von erst 52 Jahren an einer Lungenembolie. Bei seinem Tod soll er mehr als 250 kg gewogen haben. Das Herz der Hamburger Szene hatte aufgehört zu schlagen.

Veröffentlicht von on Okt 21st, 2024 und gespeichert unter SCHEIBEN VOR GERICHT. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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