Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
bevor dieses Caspar-David-Friedrich-Jahr zu Ende geht, will ich unbedingt noch meine Caspar-David-Friedrich-Geschichte erzählen. Und die geht so: Es muss ungefähr Anfang der Achtzigerjahre gewesen sein, denn ich war wohl höchstens 11 oder 12 Jahre alt, als meine Eltern und ich damals in Wismar Besuch von einem alten Schulfreund meines Vaters und seiner Familie bekamen. Dieser Schulfreund war Kunstlehrer in Greifswald und brachte uns ein ganz erstaunliches Geschenk mit: ein hübsches kleines Bild, eine Zeichnung, vielleicht im DIN-A-5-Format oder noch etwas kleiner, auf ziemlich alt wirkendem Papier, etwas vergilbt. In der Mitte war deutlich das Gesicht eines jungen Mädchens zu erkennen. Aber wenn man genauer hinsah, bemerkte man, wenn auch viel schwächer und undeutlicher, auch die zumindest angedeuteten Umrisse ihres Oberkörpers. So etwas wie eine Signatur durch den Künstler gab es nicht, doch auf der Rückseite befand sich eine Jahreszahl: achtzehnhundertirgendwas, nach meiner Erinnerung. Oder vielleicht sogar siebzehnhundertirgendwas. Ich weiß es nicht mehr genau. Ehrenfried, der Schulfreund meines Vaters, berichtete uns, dass dieses Bild aus dem Greifswalder Caspar-David-Friedrich-Haus stamme und wohl eine Skizze entweder vom Meister selbst oder von einem seiner Schüler sein könnte. Er habe dort im Friedrich-Haus an irgendetwas mitgewirkt und sich mehrere solcher kleinen Skizzen mitnehmen dürfen, und so könne er uns gerne eine davon überlassen. Das war schon äußerst erstaunlich, denn sooo ein enger Freund meines Vaters war Ehrenfried doch eigentlich gar nicht. Jedenfalls habe ich ihn wohl höchstens zwei- oder dreimal im Leben getroffen. Aber mein Vater hatte (im krassen Gegensatz zu mir später) einen riesigen Freundeskreis, war überall sehr beliebt und bekam daher auch schon mal ungewöhnliche Geschenke.
Für mich war es damals das erste Mal im Leben, dass ich von Caspar David Friedrich (1774-1840) hörte, diesem berühmten Maler aus Greifswald, und dann war auch gleich noch – möglicherweise – eins seiner Weke in unseren Besitz gelangt. Wie aufregend! Meine Eltern besorgten einen passenden Rahmen für das kleine Bild, und von nun an stand es auf dem Schreibtisch meiner Mutter, die es von Anfang an ins Herz geschlossen hatte. Manchmal zeigten meine Eltern es vor, wenn wir Besuch hatte, und erzählten diesem sodann, wie wir dazu gekommen waren. So kam es wohl, dass ein anderer Schulfreund meines Vaters, der Medizinprofessor K. aus Rostock, des Bildes ansichtig wurde und davon seinem Schwager Friedemann im Westen berichtete. Und dieser galt als Kunstkenner und war offenbar, wie uns später berichtet wurde, sogleich wie elektrisiert. Er ließ uns ausrichten, dass er das Bild ganz unbedingt einmal zu sehen wünsche. So wurden also eines Tages meine Eltern gemeinsam mit Friedemann und seiner Frau bei K. in Rostock eingeladen, und meine Eltern hatten das mutmaßliche Friedrich-Bild im Gepäck. Zum Glück durfte ich ebenfalls dabei sein und war sogleich beeindruckt von Friedemann, dem Kunstexperten aus dem Westen, im weißen Hemd und mit grauem Bart, sich ständig räuspernd und die Nase hochziehend. Wie er auftrat und redete, das unterschied sich schon sehr von allen Leuten, die ich bis dahin aus dem Osten kannte. Erwartungsvoll saßen wir dann also alle rund um den großen Tisch in der prächtigen Rostocker Stuckaltbauwohnung und richteten gespannt unseren Blick auf Friedemann. Mit leuchtenden Augen und Kennermiene betrachtete er ausgiebig unser Bild von allen Seiten, hielt es mal schräg, mal gegen das Licht. Natürlich hatte er auch eine Lupe dabei. Schließlich seufzte er tief und meinte: „Nun ja, ich hatte es mir doch etwas anders vorgestellt.“ Viel könne er dazu nicht sagen, leider, es sei ja nur so klein. Und doch: Er wolle und könne sich natürlich nicht mit Caspar David Friedrich vergleichen, nein, ganz bestimmt nicht, aber auch er fertige im Jahr mitunter mehr als hundert flüchtige Handskizzen an, einfach nur so nebenbei. Und bei einem Künstler wie Caspar David Friedrich werde es sicherlich nicht anders gewesen sein. Man wisse es hier aber einfach nicht genau. Ob meine Eltern denn vielleicht einmal daran gedacht hätten, das kleine Bild zu verkaufen?! Das allerdings lehnte meine Mutter kategorisch ab. Ihr gefalle das Bild, und deshalb wolle sie es behalten. Dabei blieb es dann.
Bei einem späteren Besuch in Rostock bei K. hörte ich mit an, wie dessen Frau sich nach einer West-Reise zu ihrer Schwester und ihrem Schwager Friedemann in Wiesbaden abfällig über letzteren ausließ. Sie könne es einfach nicht mit ansehen, wenn ein Mann sich jeden Tag schon nach dem Frühstück als erstes aufs Sofa setze und mehre Stunden Zeitung lese statt zu arbeiten. Und ihre Schwester sage gar nichts dazu… Ich hingegen fand diese Vorstellung großartig. So wollte ich auch leben! Wie ein West-Bildungsbürger. (Natürlich dachte ich mir das damals nur und sprach es nicht aus.) Und tatsächlich erwies sich später von allen Ratschlägen meiner Professoren im Jura-Studium jener als der wertvollste, man solle unbedingt immer täglich und gründlich eine gute überregionalen Tageszeitung lesen, besonders den Wirtschaftsteil, und im übrigen nie das machen, was alle machen…
Das Caspar-David-Friedrich-Bild (wenn es denn eines war) stand noch mehrere Jahrzehnte lang auf dem Schreibtisch meiner Mutter. Am Ende war es dann aber nicht mehr da. Womöglich hatte meine Mutter es jemandem geschenkt. Da ich den Verlust erst nach dem Tod meiner Eltern bemerkt hatte, konnte ich sie nicht mehr danach fragen. Aber schließlich hatten wir das Bild ja selbst auch nur von jemandem geschenkt bekommen. Und so hoffe ich, dass es nun in guten Händen ist, dass es seinem Besitzer ebensoviel Freude bereitet wie einst uns (und besonders meiner Mutter) und sich vielleicht ja noch irgendwann aufklären lässt, ob es denn wirklich vom großen Meister gefertigt wurde.
Dein Johannes