Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
wenn vor Jahrzehnten oftmals über die niedrige Wahlbeteiligung in den USA geklagt und die Frage aufgeworfen wurde, was das denn überhaupt für eine Demokratie sei, wo doch so viele Menschen sich gar nicht an der politischen Willensbildung beteiligten, dann dachte ich mir insgeheim immer: Vielleicht ist es ja auch ganz gut so, wie es ist. Ein größerer Teil der Wahlberechtigten sollte vielleicht wirklich besser zu Hause bleiben und still sein, und das nicht nur in Amerika, sondern überall in der Welt. Denn ich hatte schon damals den dringenden Verdacht, dass es in jeder Gesellschaft zu allen Zeiten eine nicht ganz kleine Anzahl an Menschen gibt, die zur Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten nach den Kriterien der Vernunft und des Allgemeinwohls schlichtweg nichts Konstruktives beizutragen haben. Diese Gruppe möglichst klein und insbesondere ihre Vertreter von jeder Machtausübung fernzuhalten, gehört zweifellos zu den großen Herausforderungen eines demokratischen Gemeinwesens. Was möglichst nicht passieren sollte, denn das ist immer eine Art Unfall im Betrieb des demokratischen Systems, ist, dass politische Bewegungen an Relevanz gewinnen, die es maßgeblich auf die Stimmen jener Enttäuschten und Frustrierten abgesehen haben, die in den Parlamenten lange Zeit nicht repräsentiert gewesen sind. Letzteres allerdings aus gutem Grund: Das Geschäftsmodell jener Repräsentationslückenschließer besteht nämlich vor allem darin, die Gesellschaft zu spalten, gegen Minderheiten zu hetzen und Stimmung gegen die demokratischen Institutionen zu machen.
Leider erleben solche zweifelhaften Bewegungen nun schon seit mehr als einem Jahrzehnt einen massiven weltweiten Aufschwung – nicht zuletzt dank des demagogischen Potenzials der sogenannten sozialen Netzwerke und insbesondere auch mit tatkräftiger Unterstützung der unermüdlich ihr Gift versprühenden Putin-Trolle, versteht sich. Das Mutterland der modernen Demokratie wird in Kürze nun schon zum zweiten Mal in die Obhut eines großmäuligen und lügnerischen Diktatoren-Bewunderers gelangen, der diesmal explizit Massendeportationen von Zuwanderern beabsichtigt, der im großen Stil den Abbau fossiler Energien fördern will und dessen hanebüchene ökonomische Agenda noch dazu den Welthandel lahmzulegen droht. Und es besteht großer Anlass zur Sorge, dass er nach dem Vorbild seines Kollegen in Ungarn die Macht nach seiner zweiten Amtszeit nicht wieder freiwillig abzugeben gedenkt, wozu er dann allerdings die amerikanische Verfassung in wesentlchen Punkten außer Kraft setzen müsste…
Auch hierzulande ist es mittlerweile so weit gekommen, dass nach den jüngsten Landtagswahlen zwei östlliche Bundesländer kaum noch demokratisch regierbar sind und ein drittes nur nach dem unwürdigen Kotau des Ministerpräsidenten vor seinem russlandfreundlichen neuen Koalitionspartner. Und dabei können wir noch froh sein, dass die Populisten derzeit in den Wahlumfragen zur Bundestagswahl am 23. Februar zusammengenommen „nur“ auf rund ein Viertel der Stimmen kommen – und nicht auf deutlich mehr wie fast überall sonst in Europa. Es wird sich zeigen, ob Rechtsstaat und Demokratie hier und anderswo stark genug sein werden, um die heraufziehenden Unwetter zu überstehen.
Dein Johannes