Hans Hugo Klein über Goethe als Jurist
Thomas Claer
Längst haben wir uns mittlerweile daran gewöhnt, dass das alltägliche Leben unserer Prominenten (und oftmals auch das ganz gewöhnlicher Zeitgenossen) für ein jeweils interessiertes Publikum in allen Einzelheiten dokumentiert ist. Historisch gesehen war einer der Ersten, vermutlich sogar der Erste, über dessen Lebensführung wir auch heute noch genauestens und detailliert Bescheid wissen, der Großdichter und Multitasker Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Dank seinem langjährigen Vertrauten Eckermann sowie der Sammelwut der damaligen und erst recht der späteren Goethe-Forschung gibt es im 83 Jahre währenden Leben des Dichterfürsten wohl mittlerweile keine blinden Flecken mehr. So ist zuletzt sogar aus heutiger Sicht wenig Vorteilhaftes über Goethe ans Licht gekommen, nämlich dessen Missbilligung bestimmter Reformen zur Judenemanzipation in Preußen (gegenüber seinem Freund Friedrich v. Müller, dem Staatskanzler des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach).
Natürlich ist Goethes so hinlänglich dokumentiertes Leben auch eine Fundgrube für alle, die sich bestimmten Aspekten seines Wirkens auch jenseits der schönen Künste näher widmen möchten. Hierzu hat der Ex-Verfassungsrichter Hans Hugo Klein in zehn Aufsätzen für diverse juristische Festschriften eine Menge Erhellendes zusammengeragen, das nun erstmals auch in Buchform – und ergänzt um ein Zusatzkapitel über „Goethes letzte Amtshandlung“ – erschienen ist. Allerdings führt der Titel dieser Aufsatzsammlung „Der Jurist Goethe“ doch etwas in die Irre, denn um Goethes im engeren Sinne juristische Tätigkeit (seine vier Jahre als Rechtsanalt, in denen er 28 Prozesse führte, ohne dabei vor Gericht anwesend zu sein) geht es hier nur am Rande. Vielmehr behandelt der Band vor allem Goethes administrative Rolle im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, u.a. als Staatsminister, Mitglied des Geheimen Collegiums (der höchsten Regierungsbehörde des Landes), leitender Oberaufseher in sämtlichen Angelegenheiten der Wissenschaft und Kultur, Direktor des Weimarer Theaters sowie Mitglied und Leiter diverser Wirtschafts- und Finanzkommissionen.
Der Hintergrund all dessen ist, dass der junge Goethe als aufstrebender Literat mit juristischer Ausbildung das Gück hatte, im zehn Jahre jüngeren Herzog (ab 1815 Großherzog) von Sachsen-Weimar-Eisenach einen großen Fan seiner Werke zu haben. Carl August holte Goethe also zu sich nach Weimar, versah ihn mit einem fürstlichen Salär und kaufte ihm ein prächtiges Stadthaus mit 18 Räumen in bester Innenstadtlage, in dem Goethe alsdann jedes Zimmer in jeweils anderen Farbtönen streichen ließ (Empfangsräume gelb, Arbeitszimmer grün, Gesellschaftsräume rot, Schlafräume weiß) und später seine immensen Sammlungen u.a. antiker Skulpturen unterbrachte. Auch für Goethes eineinhalbjährige Bildungsreise nach und durch Italien kam Carl August auf. Im Gegenzug nahm Goethe neben seiner literarischen Tätigkeit bis zu seinem Lebensende auch allerlei administrative Aufgaben im Großherzogtum wahr und stellte so seine Expertise und insbesondere auch seinen gesunden Menschenverstand in den Dienst des Großherzogs.
Goethe versah diese Ämter, wie wir aus Kleins Sammelband erfahren, stets sehr gewissenhaft und wendete viel Mühe, Kraft und Zeit für sie auf (ohne über ihnen freilich jemals sein literarisches Schaffen, seine Naturstudien oder seine privaten Korrespondenzen zu vernachlässigen). Zumeist erledigte er seine administrativen Aufgaben im häuslichen Arbeitszimmer, da sich alle erforderlichen Unterlagen stets rasch durch seine Bediensteten herbeischaffen ließen. Goethe war glänzend organisiert und gnadenlos effektiv, nutzte etwaige Wartezeiten regelmäßig zum Nachdenken über andere laufende Projekte; schließlich arbeitete er fortwährend an mehreren parallel.
In der Tagespolitik nahm Goethe, im Unterschied zu seinem für liberale Reformen aller Art zumeist aufgeschlossenen Freund und Vorgesetzten Carl August, eher den konservativen Part ein. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften Goethes in allen Lebensbereichen war seine unbedingte Ordnungsliebe. Klein vermutet, dass Goethe die von damaligen Zeitgenossen vielfach angeprangerte Unsauberkeit im Straßenbild der Stadt Karlsruhe (offenbar hat es dort seinerzeit ähnlich ausgesehen wie heute in Berlin!) zu den folgenden Sentenzen in seinem Epos „Hermann und Dorothea“ (1797) inspiriert hat:
„Sieht man am Hause doch gleich so deutlich, wes Sinnes der Herr sei, wie man, das Städtchen betretend, die Obrigkeiten beurteilt. Denn wo die Türme verfallen und Mauern, wo in den Gräben Unrat sich häufet und Unrat auf allen Gassen herumliegt, wo der Stein aus der Fuge sich rückt und nicht wieder gesetzt wird, wo der Balken verfault und das Haus vergeblich die neue Unterstützung erwartet: der Ort ist übel regieret. Denn wo nicht immer von oben die Ordnung und Reinlichkeit wirket, da gewöhnet sich leicht der Bürger zu schmutzigem Saumsal, wie der Bettler sich auch an lumpige Kleider gewöhnet.“
Als positive Gegenbeispiele für ordentliche und reinliche Städte nennt das Werk im Folgenden übrigens „Straßburg und Frankfurt und das freundliche Mannheim, das gleich und heiter gebaut ist“.
Auch wenn Kleins Goethe-Aufsätze angesichts ihrer vielen Fußnoten mitunter etwas schwer lesbar sind (anders als etwa die weniger akademisch gehaltenen Goethe-Bücher von Rüdiger Safranski oder Manfred Osten), so gewähren sie doch eine Menge hochinteressante Einblicke in ein außergewöhnliches und lückenlos erfasstes Leben vor 200 Jahren.
Hans Hugo Klein
Der Jurist Johann Wolfgang von Goethe. Eine Spurensuche in Werk und Wirken
Verlag C.H. Beck, 2024
290 Seiten; 29,95 EUR
ISBN: 978-3-406-81474-7