Der Motor und das Herz des Widerstands

Peter Theiner hat eine aktuelle Biographie Carl Goerdelers geschrieben

Matthias Wiemers

An Untersuchungen zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus herrscht kein Mangel. Die unterschiedlichen Gruppen und Kreise überlappen sich und haben oftmals ihren Namen erst durch ermittelnde Beamte der Gestapo erhalten. So auch der „Goerdeler-Kreis“ um den bis 1937 amtierenden Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler.
Im Gegensatz zu anderen Widerstandskreisen – namentlich dem „Kreisauer Kreis“ um den jungen Adeligen Helmuth James von Moltke – werden Goerdeler und seine Gesprächspartner häufig in eine vordemokratische Ecke gesteckt. Dass damit nicht immer die historische Wahrheit getroffen wurde, berechtigte zur erneuten biographischen Befassung. Nachdem bereits 1954 – 70 Jahre zuvor – Gerhard Ritter sein Standardwerk über „Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung“ verfasst hatte, hat nun Peter Theiner eine zeitgemäße Biographie verfasst, die den Untertitel trägt: „Ein deutscher Bürger gegen Hitler“.
Theiner, inzwischen pensionierter langjähriger Mitarbeiter der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart, hatte bereits vor einigen Jahren ein Portrait des Unternehmensgründers Bosch veröffentlicht, der Goerdeler nach seinem Ausscheiden aus dem kommunalen Dienst in Form eines Beratervertrags jahrelang unterstützt hatte.
Der Band beginnt mit einem kurzen Kapitel über die bürgerliche Herkunft des Richtersohnes, der mit drei Brüdern und einer Schwester in Westpreußen aufwächst.
Das Studium, das Goerdeler nach Tübingen und Leipzig und zur Promotion nach Göttingen führte, bildet den Gegenstand des noch knapperen zweiten Kapitels. Sodann folgt der erste Schwerpunkt der Arbeit Theiners, nämlich die auf mehrere Kapitel verteilte Darstellung des Weges in und das Wirken für die Kommunale Selbstverwaltung. Die Zeit des Ersten Weltkriegs (viertes Kapitel) bildet hier gleichsam einen Einschub.
Das Interesse an der kommunalen Selbstverwaltung führt den jungen Assessor zunächst zu einer sechsmonatigen Ausbildung bei einer Bank, zu der ihm der Königsberger Oberbürgermeister rät. Mit dieser Erwähnung (S. 22) deutet Theiner bereits an, dass der junge Goerdeler stets an wirtschaftlichen Themen interessiert war und er zu der „Garde auswärtiger Verwaltungsjuristen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in manchen Stadtverwaltungen das Ruder übernahmen“ (S. 23) zählt.
Darin zeigt sich ein Zug zur Professionalisierung der Verwaltung, der später – eben in der Weimarer Republik – auch dazu führen sollte, dass kommunale Unternehmen zunehmend in Privatrechtsformen überführt bzw. errichtet wurden (S. 23 ff., 73 ff.). Theiner schildert, wie Goerdeler als (erstmals bestellter) Beigeordneter in Solingen, des Zweiten Bürgermeisters in Königsberg und schließlich als Oberbürgermeister in Leipzig tätig war und wie er sich hierbei als überparteilich erwies – obwohl er zunächst Mitglied der DNVP war (S. 48).
Theiner schildert den Einstieg Goerdelers als Sanierer der Leipziger Stadtbank (S. 60 ff.) und sodann die innerstädtische Büro- und Verwaltungsreform (S. 63 ff.).
Ferner schildert Theiner, wie in Folge der Weltwirtschaftskrise Oberbürgermeister Goerdeler auch dafür plädiert, bei den Bezügen kommunaler Spitzenbeamter Kürzungen vorzunehmen und wie er zeitweilig als Reichspreiskommissar tätig ist. Als wichtiges finanzpolitisches Thema wird auch die Neuordnung der Erwerbslosenfürsorge geschildert, die ein wenig an die „Hartz-Reformen“ vor 20 Jahren erinnert (S. 66 ff.).
Darüber hinaus schildert der Autor, wie es Goerdeler schließlich ablehnt, als Arbeitsminister in die Reichsregierung Papen einzutreten. So wird in einem eigenen Kapitel für die Zeit nach der „Machtergreifung“ der Nazis der Versuch Goerdelers geschildert, die Selbstverwaltung gegenüber „Selbstermächtigung und Maßnahmestaat“ zu verteidigen (S. 85 ff.), und der Verfasser beschreibt sodann die korrupte Selbstbedienung und Ämterpatronage der NSDAP auch zu Lasten der Kommunen („Städte und Gemeinden als Beute des Regimes“, S. 109 ff.)..
Der Autor zeigt auf, dass Goerdelers zuvor bereits erschienene Stellungnahmen, Denkschriften und Aufsätze es als „paradox“ erscheinen ließen, dass er 1934/35 noch einmal in das Amt eines Reichspreiskommissars berufen wurde (S. 127 f.). Dabei sei das Schaffen von Bevollmächtigten aller Art inzwischen zur Zielscheibe von Goerdelers Kritik geworden (S. 132).
Auch die Verkammerung des Kulturlebens prangerte Goerdeler danach an (S. 136). Als Preiskommissar hatte Goerdeler namentlich mit der durch die Nazis im Agrarsektor abgeschafften Marktwirtschaft zu kämpfen (S. 139 f.). Ein Gesuch an Staatskanzleichef Hans Heinrich Lammers, mit Hilfe eines von ihm vorgeschlagenen Gesetzes die Vollmachten des Preiskommissars um Befugnisse zur Verwaltungsvereinfachung zu erweitern, scheiterten. Theiner schildert, wie Goerdeler in diesem Zusammenhang sogar bei Hitler Vorsprache halten konnte (S. 141 ff.). Der Versuch scheitert, und der Leser erfährt auch, warum Goerdeler zwei Jahre später auch von seinem Oberbürgermeisteramt zurücktritt (S. 156 ff.).
Theiner schildert zunächst Versuche des Krupp-Konzerns, Goerdeler für einen Vorstandsposten zu gewinnen, und zeigt dann, wie Goerdeler nach seinem Rücktritt Kontakte zu Robert Bosch und seinem Nachfolger Hans Walzn, die Theiner auch darstellt, zu „Auslandsreisen und Horizonterweiterung“ führen (S. 166 ff.).
Auch das nächste Kapitel ist diesen Reisen und den darin geführten politischen Gesprächen in London, Paris, Washington und Ottawa gewidmet („Gegen die Beschwichtigung des Tyrannen“, S, 177 ff.). Theiner zeigt, wie Deutschland sich allmählich in Richtung Weltkrieg bewegte („Der Weg in den Weltkrieg“, S. 191 ff.) und wie Goerdeler mit anderen zusammen im Ausland als „Emissäre gegen Hitler“ wirkte (S. 201 ff.), während sich „Das Regime weiter auf Expansionskurs“ befand (S. 210 ff.).
Der Autor zeigt weitere Schritte in Richtung Weltkrieg auf und berichtet, inwiefern sich Goerdeler dies begleitend mit Überlegungen zur Staatsreform durch Erstellung von Denkschriften beteiligte. Deutlich wird, dass bei diesen Gedanken immer zu berücksichtigen ist, an wen sich Goerdeler zu welchem Zeitpunkt mit seinen Gedanken wendete („Nach München“, S. 246 ff.). Goerdeler habe keineswegs die Rückkehr zum Bismarck´schen bzw. wilhelminischen Kaiserreich gewollt, sondern eher eine monarchische Staatsspitze vergleichbar dem englischen König (S. 249, S. 306).
Theiner zeigt auch, dass bei Goerdeler schon vor 1938 erste Gedanken über grenzüberschreitende europäische Zusammenarbeit erkennbar werden, „namentlich aus ökonomischer Sicht formuliert“ (S. 321) und dass Goerdeler bereits früh für einen souveränen Nationalstaat für die Juden eintrat, und zwar mit doppelter Staatsbürgerschaft für Juden aus Deutschland (S. 326 ff.).
In den Schilderungen zum Kriegsbeginn und des Kriegsverlaufs wird deutlich, wie es ständig misslang, einen hohen militärischen Führer zum bewaffneten Widerstand zu gewinnen und wie das Militär von Hitler sukzessive durch Dotationen korrumpiert wurde (S. 348 ff.). Hinsichtlich seiner Bemühungen um die Organisation des Widerstands wird Goerdeler als Herz und Motor des Widerstands (S. 356) bezeichnet, eine Netzwerkanalyse ergebe, so Theiner, „dass Carl Goerdeler der bei weitem aktivste Sammler und Stifter von Kontakten im Widerstand gegen Hitler war“ (S. 357).
Deutlich wird: Carl Goerdeler war gerade kein „Reaktionär“, wie es offenbar Mitglieder des Kreisauer Kreises insinuiert hatten (S. 388). Im Epilog seiner ausgezeichneten Schrift (für „heutige“ Leser mit etwas über 400 Seiten vielleicht noch lesbar) beschreibt Theiner nicht nur Goerdelers Verhaftung und Ende, sondern auch sein Verhalten vor dem Volksgerichtshof sowie die Anfertigung eines politischen Testaments. Hervor tritt in Carl Goerdeler ein verantwortungsbewusster und von Vertretern vieler Parteien geschätzter Bürger, der uns heutigen nicht zuletzt als ein Kämpfer gegen die nationalsozialistische Polykratie erscheint.

Müssen uns nicht manche Wucherung der Bürokratien, des Beauftragtenwesens („verkörpert“ von oftmals in parlamentarischen Wahlen gescheiterten Politikern), die explosionsartige Vermehrung von Staatssekretärsstellen in Bund und Ländern und der Zugriff der bundeweit bekannten politischen Parteien auf auch noch das letzte kommunale Gremium heute Parallelen zum NS-Staat erkennen lassen? Diese Frage findet sich in Theiners Buch freilich nicht formuliert.

Peter Theiner
Carl Goerdeler. Ein deutscher Bürger gegen Hitler. Biographie
Verlag C.H. Beck, 2024
496 Seiten; 34,00
ISBN: 978-3-406-82146-2

Veröffentlicht von on Feb. 17th, 2025 und gespeichert unter BESPRECHUNGEN, LITERATUR. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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