Zeuge und Zeitzeuge

Vor 70 Jahren starb in Innsbruck der deutsche Nachrichtenoffizier Erwin Lahousen. Dank seiner umfangreichen Zeugenaussage im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess von 1945 wurden viele NS-Täter verurteilt

Benedikt Vallendar

„Verräter, Schwein“, so tönte es am 30. November 1945 von der Anklagebank im Gerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes. Den einstigen Topp-Nazis, die dort saßen, war der Ärger deutlich anzusehen. Hitler, Himmler und Goebbels hatten sich mit Selbstmord aus der Verantwortung gezogen. Und nun hatte Generalmajor Erwin Lahousen als Zeuge der Anklage ausführlich von Verbrechen im NS-Staat berichtet; von Verbrechen im Sicherheitsdienst der SS, im Oberkommando der Wehrmacht und aus der engeren Entourage Adolf Hitlers, zu der neben Luftwaffenchef Herrmann Göring auch der damalige Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop gehörten.

Und viel hatte Lahousen zu berichten. Soviel, dass es am Ende für zwölf Todesurteile reichte, von denen am Ende, in der Nacht auf den 16. Oktober 1946 elf tatsächlich vollstreckt wurden. Göring hatte sich wenige Stunden vor seiner Hinrichtung mit einer Giftkapsel das Leben genommen.

Überfall auf Polen

Drei Jahre zuvor, im Februar 1942 hatte General Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht angeordnet, gefangene alliierte Kommandeure und politische Kommissare der Roten Armee zu erschießen; ein klarer Verstoß gegen die Haager Landkriegsordnung von 1899 und nur eines von vielen Verbrechen, derer die Angeklagten bezichtigt wurden. Bei seinen Dienstreisen an die Ostfront, hatte Lahousen das Elend in den deutschen Kriegsgefangenenlagern aus erster Hand erlebt, wie sowjetische Gefangene dort krepierten und Kannibalismus an der Tagesordnung war. Lahousens Chef, General Wilhelm Keitel, der einst im Harz das überschuldete Landgut seiner Eltern hätte übernehmen sollen, agierte dabei als Steigbügelhalter Hitlers, ohne wirkliche Machtbefugnis, wie Historiker heute wissen. Dennoch endete auch er am Galgen.

Terror gegen Zivilisten

Und Lahousen? Der hatte Ende August 1939 von Keitel Order bekommen, mit ermordeten KZ-Häftlingen in polnischen Uniformen einen fingierten Angriff Polens auf Deutschland zu initiieren, was wenige Tage später, am 1. September 1939 zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges führte. Noch an vielen Sitzungen im Inner Circle sollte Lahousen bis knapp vor Kriegsende teilnehmen. Er war damit über vieles im Bilde, was im Dritten Reich an Verbrechen geplant, befohlen und durchgeführt wurde; darunter die berüchtigten Massenerschießungen in der heutigen Ukraine. Das Skurrile: Lahousen galt offiziell als „wasserdicht“, ein Geheimdienstoffizier, der an vielen hochbrisanten Sitzungen teilnahm und blindes Vertrauen bei seinen Vorgesetzten genoss, was sie später bereuten.

Nur wenige Tage nach dem deutschen Überfall, am 12. September 1939 hatte Lahousen in einem Sonderzug Hitlers nahe Warschaus an einer Lagebesprechung teilgenommen, in der Außenminister Joachim von Ribbentrop die Bombardierung polnischer Städte und Massenmorde an jüdischen Zivilisten angeordnet hatte. All dies berichtete Lahousen den US-Anklägern in Nürnberg und sorgte damit für starre Gesichter auf der Anklagebank. Dass mit der Zeugenaussage Lahousens das Schicksal der meisten in Nürnberg Angeklagten besiegelt schien, war den meisten Prozessbeobachtern von da an klar, erinnern sich Zeitzeugen.

Teile und herrsche

Doch Lahousen ließ in Nürnberg noch eine weitere Bombe platzen. Als die Welt erfuhr, dass er zu den Akteuren rund um das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gehört hatte. Historiker schätzen, dass etwa zehn bis zwanzig Prozent des militärischen Nachrichtendienstes gegen Hitler gearbeitet hat, allen voran Admiral Wilhelm Canaris, der dafür im April 1945 gehängt wurde. „Anfangs beschränkte sich der Widerstand gegen Hitler auf Mäßigung im Umgang mit der Bevölkerung im Feindesland“, sagt der Historiker Wolfgang Blaschke von der FU Berlin. Meist ohne Erfolg, da der Rassenkrieg Teil der deutschen Planung war. Wobei die größten Widersacher Lahousens im Reichssicherheitshauptamt saßen, dem Zentrum des NS-Terrors, wo fanatische Hitler-Adlaten, darunter der Judenvernichter Adolf Eichmann das eigenständige Agieren der Kollegen bei der Abwehr stets mit Argwohn sahen. Und bei Hitler gegen sie wetterten, wann immer sich Gelegenheit dazu bot. „Konkurrierende Organe, die teils mit ähnlichen und gleichen Aufgaben beauftragt waren und eifersüchtig um die Gunst des Führers buhlten, sind typisch für die NS-Diktatur“, erklärt der Bonner Historiker Klaus Hildebrand das eigenartige Nebeneinander ähnlich beauftragter Dienststellen im Dritten Reich. Wann immer es zum Streit kam, konnte Hitler diesen in seinem Sinne entscheiden und sich als „Führer“ profilieren.

Lahousen, als Teil dieses eigentümlichen NS-Sicherheitsapparats, verstand es meisterhaft, sich darin zu bewegen. Wobei ihm auch seine Fremdsprachenkenntnisse zupasskamen. Denn der gebürtige Österreicher sprach neben Französisch auch fließend Polnisch und Ungarisch und hatte als einer der wenigen in der Wehrmacht 1929 ein Spezialtraining im Umgang mit Sprengstoffen für Sabotageoperationen im Feindesland absolviert. Sein Paradestück, die „Operation Pastorius“, bei der 1942 acht deutsche Agenten in den USA kriegswichtige Fabriken zerstören sollten, ging allerdings schief, was Lahousen spitzfindig dilettantischen Personalentscheidungen der NS-Bürokratie zuzuschreiben vermochte. Und dennoch. In sämtlichen Auswahlverfahren für den höheren militärischen Dienst hatte er in jungen Jahren Bestnoten erreicht und sich als umsichtiger und todesmutiger Truppenkommandeur im ersten Weltkrieg einen Namen gemacht. Dabei verstand er es in kongenialer Weise, stets unter dem Radar der Gestapo zu bleiben. Und zugleich konspirative Kontakte zu gegnerischen Diensten, etwa nach Frankreich zu pflegen, was ihm nach Kriegsende den Status eines Kronzeugen einbrachte. „Lahousen war der Gestapo bei den Untersuchungen zum Attentat auf Hitler nicht aufgefallen, da er sich rechtzeitig an die Ostfront gemeldet hatte und dort schwer verwundet wurde“, mutmaßt Historiker Blaschke.

Nach seiner Gefangennahme entpuppte sich Lahousens Wissen als Pharaonengrab, mit Hilfe dessen die Ankläger in Nürnberg die meisten ihrer Beschuldigungen gegen die einstige NS-Führungsriege auch tatsächlich beweisen konnten und damit internationale Rechtsgeschichte schrieben.

Veröffentlicht von on März 3rd, 2025 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

Hinterlassen Sie einen Kommentar!