Geheime Aufzeichnungen eines Volljuristen
Liebes Tagebuch,
wie jeder entweder schon weiß oder wahrscheinlich irgendwann im Laufe seines fortschreitenden Lebens noch bemerken wird, ist die eigene Zeitwahrnehmung vor allem abhängig vom Ausmaß der bereits selbst durchlebten Zeitspanne. In meiner Kindheit hörte ich von Erwachsenen, insbesondere von älteren, sehr oft den regelmäßig von tiefen Seufzern begleiteten Ausspruch „Die Zeit vergeht so schnell“, was ich natürlich damals nicht begriff, denn mir selbst kam es stets so vor, als ob die Zeit nur quälend langsam voranschreite.
Bald nach meiner Einschulung hingen dann überall Plakate in den Straßen mit der Aufschrift „3o Jahre DDR“, was mir wie eine schier unendlich lange Zeit vorkam. Über das Davor machte ich mir erst recht keine großen Gedanken, auch wenn damals ziemlich oft von der „Nazi-Barbarei“ die Rede war. Aber das war ja sogar schon 40 Jahre her. Im Westfernsehen wurde seinerzeit häufig die Sendung „Vor 40 Jahren“ ausgestrahlt, in der Ausschnitte aus alten Wochenschauen über den 2. Weltkrieg gezeigt und kommentiert wurden. Diese schwarzweißen, zerschlissenen Filmchen bestärkten mich nur in meiner Auffassung, dass das alles unfassbar lange zurücklag.
Mehr als 40 jahre später sieht man das alles natürlich mit ganz anderen Augen. Was vor 30 oder 40 Jahren geschah, kommt einem mitunter vor, als sei es erst gestern gewesen. Und nun denke ich mir auch, dass meine Mitmenschen in meiner Kindheit es ganz ähnlich empfunden haben müssen. Für sie war die Nazi-Zeit vermutlich noch alles andere als weit weg. Auch eine Epoche von 50 Jahren, ein halbes Jahrhundert, erscheint mir aus meiner heutigen Sicht als durchaus überschaubar. Und wenn man das verdoppelt, so kommen einem auch 100 jahre plötzlich gar nicht mehr so weit weg vor. Eigentlich ist es nur ein Wimpernschlag.
So gesehen ist unsere moderne Welt seit der Aufklärung vor 300 Jahren tatsächlich eine noch recht moderne Sache, die weniger als sechsmal das eigene bisherige Lebensalter zurückliegt – oder sogar nur viermal das Lebensalter, das man hoffentlich mindestens einmal erreichen wird. Es ist also wirklich noch nicht lange her, dass man die Vernunft als Kompass entdeckt hat, statt einfach nur auf zweifelhafte Traditionen und das Recht des Stärkeren zu setzen, wie es ja nun gerade wieder weltweit in Mode kommt. Was man sein Leben lang für selbstverständlich gehalten hat, könnte sich nun als vorübergehende historische Anomalie erweisen. Und selbst die gut 2.000 Jahre, die es jetzt her ist, dass vor den Toren Jerusalems ein obskurer Wunderheiler ans Kreuz geschlagen wurde, erscheinen mir nun längst nicht mehr so weit entfernt. Dass es, wie es in der Antike hieß, nichts Neues unter der Sonne gebe, lässt sich zwar angesichts des aktuell rasanten Fortschritts der technischen Innovationen so nicht mehr behaupten. Was sich aber über die Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende nur sehr eigeschränkt verändert hat, ist die affektgetriebene menschliche Psyche. Und das haben wir wohl sträflich unterschätzt…
Dein Johannes