„An der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter“

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk im Gespräch am 80. Jahrestag des Zweiten Weltkkriegsendes, Teil 1

Es ist Feiertag in Berlin, und das nur in Berlin. Kein Mensch arbeitet heute hier. Nur der Historiker und streitbare Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk ist uns zum Interview zugeschaltet. Er ist bestens gelaunt, trotz all der wenig erfreulichen Dinge, die er uns gleich erzählen wird.

ISK: Wir haben 45 Minuten Zeit.

Kriegen wir hin. Erste Frage: Warum wird die weitgehend rechtsextreme Partei AfD – inzwischen kann man ja sogar sagen: die gesichert rechtsextremistische Partei AfD – in Ostdeutschland fast doppelt so viel gewählt wie in Westdeutschland?

ISK: Also ich sage schon seit Jahren, dass das eine faschistische Partei ist. Und in jeder faschistischen Partei gibt es auch Leute, die keine Faschisten sind. Also insofern ist das für mich keine neue Erkenntnis, die der Verfassungsschutz jetzt offizialisiert hat. In Ostdeutschland sind mehrere Dinge zu berücksichtigen, die sich unterscheiden vom Westen. Der Faschismus und rassistische Ideologien siedeln dort nicht am Rand der Gesellschaft, sondern in der Mitte der Gesellschaft, und zwar seit vielen Jahren und Jahrzehnten. Das ist eine Mainstreamkultur. In Ostdeutschland ist der Rassismus viel stärker ausgeprägt. Er ist auch viel aggressiver und offensiver dort vorhanden. Das alles hängt mit einer nicht geleisteten gesellschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zusammen, mit einer nicht die Gesellschaft erreicht habenden Aufarbeitung des Kommunismus. Das hängt mit den Erfahrungen in der Transformationszeit zusammen, also dem Übergang vom Kommunismus zur Bundesrepublik. Mit den Erfahrungen, die die Menschen dort millionenfach machen mussten und die sie in der Konsequenz vom westlichen Liberalismus, vom westlichen System haben abrücken lassen. Und deswegen gibt es heute einen großen Hass auf den Westen, auf das westliche politische System. Und das äußert sich unter anderem in der Zuwendung zur faschistischen AfD und in der Zuwendung zum Bündnis Sahra Wagenknecht. Für mich sind Sahra Wagenknecht und AfD zwei Seiten einer Medaille, und beide sind kremltreue Parteien, die die Narrative aus Moskau übernehmen und sich insofern dort mit Russland gemein machen nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Ganz kurze Zwischenfrage: Wie ist Ihre aktuelle Einschätzung zum Bündnis Sahra Wagenknecht? Sind die jetzt nach dem Nichteinzug in den Bundestag und diversen internen Querelen in einzelnen Bundesländern „weg vom Fenster“? Oder werden sie noch mal zurückkommen?

ISK: Also das kann gegenwärtig keiner so richtig sagen. Wir beobachten ja mit großem Interesse, dass die Linkspartei gerade so ein erstaunliches Revival erfährt. Die haben gerade heute verkündet, dass sie einen neuen Mitgliederrekord in den letzten 20 Jahren aufgestellt haben. Also die haben einen ungebrochenen Zulauf. Zugleich haben sie in den letzten Wochen seit dem erstaunlichen Erfolg bei den Bundestagswahlen ihre Rhetorik enorm verschärft, viel stärker linksradikale Töne anschlagend nach dem Motto: Wir wollen das System überwinden. Das ist ja auch eine Losung von Bündnis Sahra Wagenknecht, allerdings aus einer ganz anderen Richtung. Und insofern ist jetzt gerade meines Erachtens ein bisschen offen, wer sich da gegenseitig das Wasser abgräbt. Es wird sicherlich auch daran hängen, wie sich die Linkspartei in den nächsten Wochen zur Ukraine, zu Russland, zu China positioniert. Und insofern würde ich da aktuell keine Prognose abgeben wollen oder können, weil das nicht seriös wäre. Aber ich halte es für verfrüht, einen Abgesang auf das BSW zu singen. Sahra Wagenknecht hat ja noch ein, zwei, drei Tage vor den Wahlen gesagt: Wenn sie scheitert, zieht sie sich aus der aktiven Politik zurück. Das hat sie nicht getan, sondern sie führt gerade Machtkämpfe in ihrer Partei, hat den ersten in Thüringen verloren. Auf die Umfragen – alle sechs Stunden gibt es eine neue Umfrage – kann man da nicht so großen Wert legen. Es wird in hohem Maße auch davon abhängen, ob Sahra Wagenknecht über kurz oder lang wieder so eine hohe mediale Präsenz erreicht, wie sie es im Bundestagswahlkampf und in den Monaten davor hatte. Wenn die Medien ihr wieder diese Podien bieten, dann, glaube ich, wird sie auch zurückkommen. Aber es hängt natürlich auch wieder davon ab: Was werden wir jetzt für eine Politik haben von der neuen Regierung? Und was werden wir für eine Opposition jenseits der Faschisten haben? Also insofern gibt es noch viel abzuwarten. Aber ich würde die Partei noch nicht für tot erklären.

Warum hat es nach Ihrer Meinung die deutsche Gesellschaft in den letzten 35 Jahren nicht geschafft, Ostdeutschland und die Ostdeutschen demokratisch zu integrieren?

ISK: Naja, also ich glaube die Frage ist schon ein bisschen problematisch. Demokratie und Freiheit sind keine Dienstleistungseinrichtungen, wo man darauf warten sollte, dass irgendwer etwas für einen macht, sondern Demokratie und Freiheit leben von dem Engagement der Menschen. In meinem Verständnis bedeutet Freiheit, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen. Sich für sich und die Gesellschaft zu engagieren, soziale Verantwortung zu übernehmen, politische Verantwortung zu übernehmen, sich einzumischen und Kompromisse auszuhandeln. Demokratie ist keine Konsensgesellschaft, sondern eine Kompromissgesellschaft. Und genau das sind alles Dinge, die viele Ostdeutsche nicht gelernt haben, die sie nicht lernen wollten und die sie bis heute auch nicht akzeptieren, weil sie letztendlich immernoch in einer obrigkeitsstaatlichen Mentalität verfangen sind. Deshalb sehnen sie sich auch nach autoritären Kräften wie der AfD oder Sahra Wagenknecht. Deshalb himmeln sie Putin an, weil das ihnen in ihrer Wahrnehmung genau das erfüllt, was sie wollen. Und genau deshalb bin ich auch viel gnädiger, was die Beurteilung westdeutschen Handelns anbelangt. Da sind viele Ungerechtigkeiten passiert. Da sind viele Dinge passiert, die man hätte verhindern können. Manches konnte man nicht verhindern. Am Ende des Tages muss man aber auch feststellen, dass die Ostdeutschen insgesamt viel zu inaktiv waren, um gewissermaßen auch ihre Beiträge zur deutschen und europäischen Demokratie zu leisten.

Was bedeutet für sie persönlich Freiheit?

ISK: Also für mich ist Freiheit der Dreh- und Angelpunkt meines Denkens und Lebens. Ich habe bis 1989 in einer Diktatur gelebt, in einem extrem gewaltvollen und unfriedlichen System. Einem System, das die Menschen eingemauert hat, und zwar nicht nur an den Grenzen, sondern auch überall im Land. Jede Schulstunde war von Mauern gekennzeichnet, von Denkverboten, von Sprechverboten. Davon war jeder Mensch in der DDR betroffen. Den meisten war es irgendwann gar nicht mehr bewusst, wie dramatisch und schlimm das war. Und insofern war für mich die Freiheitsrevolution von 1989 eine echte Befreiung. Ich begreife mich auch als Teil dieser Freiheitsrevolution. Ich bin der festen Überzeugung, dass Freiheit das Wichtigste ist, was menschliche Gesellschaften aufzubieten haben. Dass es nichts gibt, was wichtiger ist als Freiheit, weil es nichts anderes gibt ohne Freiheit. Es gibt auch keinen Frieden ohne Freiheit.

Auf welche Weise könnte man der gegenwärtigen Gefahr entgegenwirken, dass sich die Demokratie in Deutschland selbst abschafft?

ISK: Ich habe darauf keine Antwort. Deutschland ist zwar ein großes Land in Europa. Weltpolitisch gesehen ist Deutschland eine der größten Volkswirtschaften, ich glaube aktuell die drittgrößte Volkswirtschaft, hinter den USA und China, noch vor Japan, vor Frankreich, vor Italien, vor Südkorea. Was wir aber beobachten, ist in vielen, vielen Ländern des politischen Westens eine Erosion der Demokratie. Und da kann keiner irgendwie alleine im luftleeren Raum agieren. In Europa haben wir die Situation, dass in vielen Ländern die Faschisten auf dem Vormarsch sind. Sie sitzen in Finnland mit in der Regierung, wir haben rechtsextreme Kräfte in Portugal mit 20 Prozent. Der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union war ein Werk der Rechtsradikalen. Wir sehen, was in Frankreich droht. Egal, wo wir hinschauen: Wir haben mit Orban in Ungarn einen Verbündeten von Putin an der Macht. (Und Ungarn gehört zur Europäischen Union!) Das droht uns jetzt als nächstes in Rumänien. Und so weiter. Wir können hinschauen, wo wir wollen. Aber es gibt auch Hoffnungszeichen. Ein Hoffnungszeichen waren die Wahlen in Polen vor anderthalb Jahren. Da ist die PIS abgewählt worden. Aber zugleich ist das praktisch ein fast totes Rennen gewesen, da es ein 50-zu-50-Prozent-Ergebnis war. Und das eigentliche politische Erdbeben auf der Welt fand in den USA statt. Europa ist auf eine fahrlässige Weise von den USA abhängig, insbesondere verteidigungspolitisch. Das ist die einzige Forderung von Trump, die ich immer verstanden und geteilt habe: dass es ein unmöglicher Zustand ist, dass die reichste Region der Welt, Europa, verteidigungspolitisch abhängig ist von den USA. Das ist total absurd. Und insbesondere Deutschland! Deutschland ist wirklich nicht in der Lage, russländischen Truppen auch nur 24 Stunden Gegenwehr zu bieten. Gott sei Dank haben wir die Polen vor uns, Gott sei Dank haben wir die Skandinavier, die alle viel mehr dazu bereit sind. In Deutschland ist auch keine Mehrheit der Gesellschaft bereit, sich zu verteidigen. Es ist also eine ganz dramatische Situation. Aber das Hauptproblem ist, dass wir gerade weltweit Zeugen davon werden, wie ein faschistisches Regime in Echtzeit errichtet wird in den USA. Das wird mit einem großen Erstaunen und auch mit einem gewissen Schweigen in der westlichen Welt hingenommen, als wenn das alles noch im Rahmen von vertretbaren Grenzen ablaufen würde, was es aber nicht tut. Und wenn sich dort dieses autoritäre, womöglich faschistische Regime weiter etabliert, dann hat das natürlich enorme Auswirkungen auf Europa und insbesondere auch auf Deutschland. Und ich kann Ihnen leider keinen positiven Ausblick mitgeben. Ich glaube, wir stehen an der Schwelle zu einem autoritären Zeitalter. Das kann ganz schlimm werden. Aber noch sind wir in Deutschland, die wir Demokratie und Freiheit verteidigen wollen, in der Mehrheit. Und deshalb müssen wir halt darum kämpfen. Aber das Problem ist: Viele Menschen in Westeuropa kennen nichts anderes als Demokratie und Freiheit. Das ist eben der grundlegende Unterschied zu Ostdeutschland, zu Polen, zu den baltischen Staaten. Die Menschen glauben, dass Demokratie und Freiheit, weil sie nichts anderes kennen, wie gottgemacht sind. Das ist eben immer so gewesen, und das wird auch immer so bleiben. Und ich sage den Leuten dann immer: Liebe Leute, das ist menschengemacht. Das kann auch wieder kaputtgehen und kann verlorengehen. Und das mögen manche Intellektuellen geistig begreifen, aber das kommt nicht an ihre Herzen ran. Sie können sich das nicht vorstellen. Und das ist ein Riesenproblem, denn wenn man sich nicht vorstellen kann, dass das, was man hat, zu Ende gehen kann, dann verteidigt man es auch nicht engagiert. Und genau in dieser Situation leben wir gerade in Europa und können das tagtäglich beobachten. Und das ist eine meiner Antriebsfedern, weshalb ich mich Tag für Tag versuche zu engagieren für Demokratie und Freiheit.

Kurze Anschlussfrage: Trotz allem, was sie gesagt haben, hat Deutschland durch seine Nazi-Vergangenheit vielleicht doch eine bessere Ausgangsposition, um diese rechtsautoritäre Bedrohung abzuwehren und um zu verhindern, dass solche Kräfte an die Macht kommen. Insbesondere vielleicht Westdeutschland, weil Westdeutschland ja eine sozusagen „Entnazifizierung von unten“ erlebt hat durch die Achtundsechziger-Bewegung – im Gegensatz zu Ostdeutschland. Kann sich das nicht als wichtiger Vorteil erweisen im Vergleich zu anderen Ländern ohne eine solche Nazi-Vergangenheit?

ISK: Also ich hätte Ihnen bis vor kurzem Recht gegeben tendenziell. Vor zwei, drei Tagen ist eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht worden, in der erstmals festgestellt wurde, dass eine relative Mehrheit der Deutschen einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ziehen will: 38 Prozent. Und weitere 26 Prozent haben keine Meinung dazu. Und das korrespondiert mit dem Aufstieg der Faschisten in Deutschland. In Ostdeutschland können sich zwei Drittel vorstellen, unter einem autoritären Regime zu leben. In Westdeutschland sind das mittlerweile auch 20 Prozent. Jeder Fünfte! Und das sind wachsende Tendenzen. Also insofern: Es gibt diesen Unterschied zwischen Ost und West. Das kann man gut historisch begründen. Das haben Sie eben sehr gut gemacht, das könnte ich mit weiteren Sachen machen. Aber Ostdeutschland ist deswegen interessant als Betrachtungsobjekt, und es sollte auch für viele andere interessant sein als Betrachtungsobjekt, weil in Ostdeutschland sich Entwicklungen nur früher, schneller und radikaler zutragen als anderswo. Und andere Regionen, insbesondere andere Regionen in Europa ziehen dann nach. Und das können wir auch über die letzten 20 Jahre im Ost-West-Deutschland-Vergleich beobachten, dass zum Beispiel die Akzeptanz von Freiheit im Westen abnimmt, dass die Zustimmungswerte zunehmen für: „Gleichheit ist wichtiger als Freiheit“ und viele solche Dinge. Auch die Verteidigungsbereitschaft nimmt im Westen ab, die im Osten nie richtig da war. Es gibt nach wie vor einen großen Unterschied in der Bewertung der NATO. Während im Westen nach wie vor die NATO das Verteidigungsbündnis ist, das auch mehrheitlich begrüßt wird, gibt es diese Zustimmung im Osten nicht und auch nicht die Einschätzung, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist. Da gibt es natürlich große Unterschiede. Es gibt auch einen großen Unterschied in der Parteibindungsquote. Deutschland ist eine Parteiendemokratie laut Grundgesetz. Und da hat man natürlich ein Problem, wenn kaum Leute in einer Partei sind. Im Osten gibt es Regionen, die sind gewissermaßen parteifrei. Und die Parteibindungsquote ist zehnmal so gering wie im Westen. Auch da geht die Parteibindungsquote extrem zurück, aber sie ist immer noch relativ stabil. Das heißt, dass das politische System noch handlungsfähig ist. Das ist in Ostdeutschland aber nicht mehr der Fall. Bei Kommunalwahlen haben wir das Phänomen, dass die Parteien nicht mehr genug Leute haben, um die Ämter zu besetzen. Um ganz zu schweigen von der schwachen Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Die Zivilgesellschaft als Korrektiv der parlamentarischen repräsentativen Demokratie ist extrem wichtig für eine funktionierende Demokratie. Die funktioniert in Westdeutschland sehr gut, nach wie vor. Und die ist nach wie vor in Ostdeutschland extrem unterentwickelt. Sie ist schon stärker jetzt als vor zehn oder 20 Jahren, und das hat in hohem Maße auch mit Zuzug aus dem Westen zu tun. Es sind ja nicht nur sehr viele Menschen aus dem Osten in den Westen gegangen. Fast ein Drittel der Bevölkerung ist abgewandert! Das muss man sich mal vorstellen! Also Ostdeutschland hat heute einen extremen Männerüberschuss, ist extrem überaltert. Aber bestimmte demografische Faktoren konnten dort nur deshalb einigermaßen abgemildert werden, weil es auch eine Zuwanderung von 2 Millionen Menschen aus dem Westen gab. Die im übrigen auch dafür sorgt, dass die Wahlergebnisse im Osten nicht noch desaströser ausfallen, weil die zugewanderten Westler im Osten eher die traditionellen Parteien und keine Extremisten wählen.

Teil 2 des Gesprächs folgt in einer Woche an dieser Stelle.

Das Interview führten Juyeon Han und Thomas Claer.

Aktuelle Buchempfehlung:

Ilko-Sascha Kowalczuk – Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute, Verlag C.H. Beck, 2024, 22,00 EUR, ISBN: 978-3-406-82213-1 (hier von uns rezensiert)

Am 21.8.2025 erscheint:

Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow – Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten, Verlag C.H. Beck, 2025, 23,00 EUR, ISBN-10: 3406838316

Veröffentlicht von on Mai 12th, 2025 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT HISTORISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Gehen Sie bis zum Ende des Beitrges und hinterlassen Sie einen Kommentar. Pings sind zur Zeit nicht erlaubt.

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