Recht cineastisch, Teil 10: Die anonymen Romantiker
Thomas Claer
Schwer zu sagen, ob „Die anonymen Romantiker“ wirklich ein guter Film ist, aber auf alle Fälle ist er ein sehr wichtiger Film, rührt er doch an einem Tabu in unserer modernen Gesellschaft. Es geht, anders als es der etwas irreführende deutsche Titel suggeriert, nicht unbedingt um Romantik (die erst zum Ende hin und eher unfreiwillig entsteht), sondern um zwei von schätzungsweise 10 bis 15 Prozent aller Menschen, die im Film als „hochsensibel“ bezeichnet werden. Die überaus begabte, aber kontaktscheue Schokoladen-Herstellerin Angélique tritt ihre neue Stelle in einer kleinen Schokoladenmanufaktur an und trifft dort bereits im Bewerbungsgespräch auf den ebenfalls hochsensiblen, sich aber hinter einer Maske aus Übellaunigkeit und Strenge verbergenden Chef Jean-René. Angélique, Ende 30, hat u.a. das Problem, dass sie, sobald sich die Aufmerksamkeit mehrerer Menschen auf sie richtet, errötet oder in Ohnmacht fällt. Jean-René, Mitte 40, hingegen bekommt u.a. Panik und Schweißausbrüche, sobald er sich in Gegenwart einer Frau befindet oder andere Menschen berühren muss. Doch beide arbeiten an ihren Leiden, Angélique in einer Selbsthilfegruppe und Jean-René auf der Couch eines Therapeuten, der ihm zur Bewältigung seiner Phobien immer neue Aufgaben stellt. Beim ersten Rendez-vous der beiden im Restaurant (eine Aufgabe für Jean-René von seinem Therapeuten), liest Angélique Konversationsfragen von Kärtchen ab, während Jean-René alle paar Minuten seine nassgeschwitzten Hemden wechselt. In den vielen kleinen Missverständnissen der Hauptfiguren sowohl untereinander als auch im Kontakt zu ihrer Umgebung entfaltet sich die mitunter beträchtliche Komik des Films, die in ihren stärksten Momenten an die besten Loriot-Sketche erinnert. Leider wird aber auch gelegentlich, im Verlaufe der Handlung noch zunehmend, die Schwelle zur Albernheit überschritten. Am Ende schlagen die Protagonisten ihren Ängsten jedoch ein Schnippchen, kommen mit der Schokoladenmanufaktur ganz groß raus und finden schließlich auch privat zueinander.
Was sagt uns nun dieser Film? Hochsensible, extrem schüchterne und an Sozialphobien leidende Menschen (die Übergänge sind fließend) passen auch bei bester fachlicher Kompetenz nur sehr bedingt ins heutige Erwerbsleben, das vielerlei Torturen für sie bereithält. Nur selten würden sie ein Bewerbungsgespräch, nie ein Assessmentcenter überstehen. Ihr immenses, oft und vor allem auch kreatives Potential kann die Gesellschaft nur in den seltensten Fällen nutzen. Es bleibt die Frage, wie sich moderne Volkswirtschaften nur ein solches Marktversagen, eine so gewaltige Verschwendung an Ressourcen leisten können.
Die anonymen Romantiker (Les émotifs anonymes)
Frankreich/ Belgien 2010
Regie: Jean-Pierre Améris
Drehbuch: Benedek Fliegauf
78 Minuten, FSK: 0
Darsteller: Isabelle Carré, Benoît Poelvoorde, Lorella Cravotta u.v.a.