Vor 30 Jahren erschossen DDR-Grenzer den Baggerfahrer Heinz-Josef Große
Benedikt Vallendar
Wahlhausen / Schifflersgrund – Als am 29. März 1982 der damals 34-Jährige Baggerführer Heinz-Josef Große im Auftrag von DDR-Grenztruppen einen Graben, nur wenige Meter von der stark gesicherten Grenze zu Hessen aushob, wagte er bei Schifflersgrund den Sprung über den metallenen Zaun. Große geriet ins Sperrfeuer einer Grenzpatrouille. Zersiebt von mehreren Salven aus AK-47-Gewehren verblutete der junge Mann qualvoll im Gras. Ein schlichtes Holzkreuz erinnert heute an das an einem einfachen Arbeiter begangene Verbrechen. Jährlich zum 13. August, dem Tag des Mauerbaus in Berlin 1961, versammeln sich Freunde und Familienangehörige und gedenken seines Todes. Nur absolut linientreue Genossen konnten zu DDR-Zeiten an der Grenze Dienst mit der Waffe tun. 1996 verurteilte das Landgericht Mühlhausen die zur Tatzeit 18 und 19-Jährigen Grenzsoldaten zu Jugendstrafen auf Bewährung. Das Gericht bescheinigte ihnen zum Zeitpunkt der Tatbegehung „jugendliche Unreife“.
Heimliche Bestattung
„Gefühlsmäßig bin ich bis heute ein Arbeiter geblieben“, sagt ein langjähriger Freund und Weggefährte Großes. Doch mit den Kommunisten und ihrer Ideologie wollten er und viele andere schon zu DDR-Zeiten „nichts zu tun haben“, sagt er. Niemals war Große bei seiner Arbeit negativ aufgefallen. Er galt als ruhiger, freundlicher Einzelgänger, der sich politisch neutral verhielt. Später beriefen sich die Täter auf „Befehlsnotstand“, obgleich bis heute strittig ist, ob es überhaupt je einen Schießbefehl an die DDR-Grenztruppen gegeben hat. Als Heinz-Josef Große wenige Tage nach seinem Tod in seinem Heimatort Thalwende beigesetzt wurde, sicherten hauptamtliche Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Zeremonie ab. „Es waren ortsfremde Stasileute, die tagelang im Ort auf und ab gingen und alles und jeden überprüften, der ihnen verdächtig vorkam“, erinnert sich eine Thalwenderin. Nichts sollte vom unnatürlichen Tod Großes an die Öffentlichkeit geraten. Offenbar war sich auch die SED der Rechtswidrigkeit ihres Handelns bewusst und fürchtete um die internationale Reputation der DDR. Heute erinnert in Thalwende nur noch wenig an die DDR. Ein paar graubraune Häuserfassaden und abgetretenes Kopfsteinpflaster in einigen Nebenstraßen. Die Seelengemeinde hat den Sprung in die neue Zeit gut gemeistert. Bis 1989 befand sie sich im fünf Kilometer breiten Sperrgebiet vor der Grenze zur Bundesrepublik. Nur mit einem speziellen Ausweis kamen DDR-Bürger dort hinein. Allein dessen Beantragung, etwa um Verwandte zu besuchen, konnte die Behörden misstrauisch machen. „Republikflucht“ und allein schon deren Versuch galten in der DDR bis 1989 als schwere Straftaten, die fast immer mit Gefängnis geahndet wurden.
Verfilmung in Hollywood
Indes hatten viele Menschen den Glauben an ein „Arbeiter- und Bauernparadies“ auf deutschem Boden schon lange vor dem gewaltsamen Tode Heinz-Josef Großes verloren. Die meisten DDR-Bürger hatten sich in die Nischengesellschaft des SED-Staates zurückgezogen und lebten ihr privates Glück im Familien- und Freundeskreis. Doch es gab auch jene, die sich mit den diktatorischen Verhältnissen nicht abfinden und die DDR ohne langwieriges Ausreiseverfahren verlassen wollten. Eine von ihnen war die Musikdozentin Eva-Maria Neumann aus Leipzig, die im Februar 1977 mit ihrem Mann und ihrer damals drei-jährigen Tochter Constanze im umgebauten Kofferraum eines Fluchthelfers illegal über die innerdeutsche Grenze fliehen wollte – und erwischt wurde. „Die Flucht war dilettantisch geplant“, sagt Neumann rückblickend. Und der Schock saß tief, als Grenzpolizisten mit vorgehaltenen Maschinenpistolen das Fluchtfahrzeug der Neumanns umstellten und die Familie in das Scheinwerferlicht der Staatssicherheit blickte. Die Behörden kennen kein Pardon. Constanze kommt bei den Großeltern unter, und für das Ehepaar Neumann beginnt eine Odyssee durch den Strafvollzug der DDR. Sie werden später zu drei- und dreieinhalb Jahren Haft verurteilt und 1979 von der Bundesregierung freigekauft.
Die DDR als „frühneuzeitliche Ständegesellschaft“
Heute lebt die Familie in Aachen. Eva-Maria Neumann hat mehr als ein Jahr lang im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen abgesessen, auf einer Zelle mit Mörderinnen, Diebinnen und anderweitig schwerkriminellen Frauen. Warum sie und ihre Familie das Land verlassen wollten? „Wir fühlten uns in der DDR lebendig begraben“, sagt die heute 61-Jährige. Sie und ihr Mann wollten verhindern, dass ihre Tochter in einem totalitären Staat aufwuchs. In ihrem Buch „Sie nahmen mir nicht nur die Freiheit“, das 2008 im Piper-Verlag München erschienen ist, beschreibt Neumann, passionierte Violinistin, das Leben in der DDR und die Motive für ihre Flucht. „Der Sozialismus war eine Illusion, von der nur eine kleine Parteiclique profitiert hat“, sagt sie. „Im Grunde war die DDR wie eine frühneuzeitliche Ständegesellschaft organisiert“, sagt sie. Parteikader, Staatssicherheit und das Zentralkomitee fühlten sich in der DDR als das, was im 16. und 17. Jahrhundert König, Hochadel und Teile des Klerus` über das gemeine Volk gedacht und so gehandelt haben. Der Einzelne zählte wenig, das Kollektiv hatte zu funktionieren und den Vorgaben der Parteioberen zu gehorchen. „Das System gab sich sehr fortschrittlich, doch in Wirklichkeit war die DDR politisch eine Mischung aus französischem Absolutismus und Ständestaat“, so ihr rückblickendes Urteil. Andere hatten mehr Glück. Die wohl spektakulärste Flucht aus der DDR gelang den Familien Strelzyk und Wetzel aus Thüringen, die am 16. September 1979 mit einem selbst gebauten Heißluftballon die innerdeutsche Grenze unblutig überwanden und auf einem Waldstück bei Naila in Bayern landeten. Bis auf 2.500 Meter war das über Monate heimlich nachts im Keller gebaute Fluggerät in den Himmel gestiegen, bevor es ein Windstoß in wenigen Minuten gen Westen trieb. Die spektakuläre Flucht wurde später sogar in Hollywood verfilmt und der Originalheißluftballon ist heute im Heimatmuseum von Naila zu sehen. Er zeigt, was Menschen zu riskieren bereit sind, um in Freiheit leben zu können.
Internet: www.grenzmuseum.de