Vorwärts und nicht vergessen…

Recht cineastisch Spezial: 80 Jahre „Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?“

Thomas Claer

Dieser Film war von Anfang an ein Politikum. Vor 80 Jahren wurde „Kuhle Wampe“, der in Berlin spielende kommunistische Propaganda-Kunstfilm mit Drehbuch von Bertolt Brecht und Musik von Hanns Eisler, erst von den Prüfstellen der Weimarer Republik verboten, dann von diesen nach heftigen Protesten als zensierte Fassung erlaubt und schließlich einige Wochen nach der „Machtergreifung“ endgültig von den Nazis verboten. Nach dem Krieg galt er lange als verschollen, tauchte später wieder auf und ist seit 2008 als DVD mit ausführlichem Booklet in der Filmedition Suhrkamp erhältlich (bei Amazon für 15,99 EUR).

Benannt ist der Film nach einer Laubenkolonie und einem Zeltplatz am Müggelsee in Berlin-Friedrichshagen im äußersten Südosten von Berlin. (Diese Gegend machte jüngst durch vehemente Proteste ihrer Anwohner gegen die Flugrouten des neuen Berliner Flughafens von sich reden.) Hier lebten während der Weltwirtschaftskrise (1929 ff.) viele arbeitslose Arbeiterfamilien, die ihre Mietwohnungen in der Innenstadt nicht mehr bezahlen konnten. Und diese Verdrängung der Armen aus dem Stadtzentrum ist nicht das einzige Deja-vu-Erlebnis, das einen beim Ansehen dieses Filmklassikers beschleicht. Ähnlich wie damals stellt sich auch heute nach einer tiefen globalen Wirtschaftskrise wieder einmal „die Systemfrage“ (so auch der Titel einer aktuellen Serie im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung). Verelendung, Massenarbeitslosigkeit, eine perspektivlose Jugend – das erleben wir derzeit akut in etlichen Ländern Südeuropas. Und wenn nicht alles täuscht, dann hat uns hierzulande nur eine Mischung aus gesunder Wirtschaftskraft (Exportwunder!), vergleichsweise solider Haushaltspolitik und entschlossenen Agenda 2010-Reformen vor ähnlichen Zuständen bewahrt. Wie explosiv die soziale Lage – jedenfalls im europäischen Maßstab betrachtet – im Grunde auch heute wieder ist, wird deutlich, wenn man sich die Situation von 1932 vor Augen hält: Demokratie, Marktwirtschaft und Parlamentarismus hatten eindeutig abgewirtschaftet. Die demokratischen Regierungen in Deutschland hatten ihre Chance nicht genutzt. Die Zeit war reif für etwas Neues. Was dann aber kam, nämlich die Machtübernahme der Nazis, das hatte die proletarische Bewegung gewiss nicht gewollt, wohl aber – unfreiwillig – mit herbeigeführt. Der Film ist ein Musterbeispiel für die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die ursprünglich von Max Weber stammt und die Helmut Schmidt so oft im Munde führte. Die damals (und nicht nur damals!) mehr als berechtigte ätzende Kapitalismus-Kritik schürte eine anti-demokratische Stimmung, die aber kaum der kommunistischen Weltrevolution diente, sondern letztlich nur den selbsterklärten Führern der „arischen Volksgemeinschaft“ in den Sattel  geholfen hat.

Die Mitglieder der Kommission, die über das Verbot des Filmes zu befinden hatte, das zeigt ein ebenfalls auf der DVD enthaltener nachgestellter Dokumentarfilm, hatten die Gefährdung der noch jungen Demokratie deutlich vor Augen. Als Kompromisslösung wurde dann Ende 1932 eine entschärfte Version freigegeben, die heute leider die einzige noch erhaltene ist. Die Zensur beschränkte sich im Wesentlichen auf als sittlich anstößig empfundene Stellen wie die solidarische Sammlung von 90 Mark unter den Arbeiterfamilien für eine Kindesabtreibung und eine Nacktbadeszene im Müggelsee. (Noch 20 Jahre später ereilte den Film „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef wegen eines weitaus kürzeren und harmloseren Nacktauftritts dasselbe Schicksal.) Der politische Charakter des Films, der dann mit großem Erfolg in den Kinos der Berliner Arbeiterbezirke gezeigt wurde, veränderte sich durch die Kürzungen nur unerheblich.

Aber ist dieser propagandistische Film denn auch künstlerisch gelungen? Obwohl die politische Tendenz hier erkennbar Vorrang vor jedem ästhetischen Anspruch haben sollte und die Figuren durchweg holzschnittartig gezeichnet sind, entfaltet sich doch eine ganz eigene Magie. Eine besondere Rolle dabei spielt die dissonante und schrille, ja streckenweise unheimliche Musik Hanns Eislers, des kommunistischen Schönberg-Schülers, der 18 Jahre später die DDR-Nationalhymne komponieren sollte. Vor allem der Gesang der Arbeiterchöre, die auf einer Sportveranstaltung am Müggelsee immer wieder das „Solidaritätslied“ anstimmen, geht einem durch Mark und Bein. Man muss bedenken: Tonfilme gab es damals erst seit kurzer Zeit. Darüber hinaus erinnert manches in „Kuhle Wampe“ an ein Brechtsches episches Theaterstück mit den berühmten V-Effekten. Insbesondere die Heimfahrt mit der S-Bahn vom Müggelsee in die Innenstadt, auf der sich eine lebhafte Diskussion zwischen etlichen Fahrgästen mit unterschiedlichen politischen Auffassungen und sozialem Status über das politische Weltgeschehen entwickelt, ist von raffinierter gestalterischer Hintergründigkeit.

Und auch sonst gibt es so vieles, das einem beim Betrachten aus heutiger Sicht ins Auge springt. Welche Ironie ist es doch, dass ausgerechnet die dunklen, ärmlichen, kleinen Hinterhauswohnungen in den Berliner Arbeiterbezirken, die damals als Inbegriff eines elenden Lebens galten, heute zu horrenden Quadratmeterpreisen ihren Besitzer wechseln und von ultraschicken Hipstern bewohnt werden. Und welche humane Botschaft liegt in der 2. Strophe des Solidaritätsliedes:

„Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber!
Endet ihre Schlächterei!
Reden erst die Völker selber,
werden sie schnell einig sein.“

Doch wird dieser Optimismus, der sich im übrigen weitgehend mit dem des demokratischen Liberalismus deckt, leider täglich aufs Neue erschüttert. Sobald man „die Völker“ nämlich über sich selbst bestimmen lässt, wählen sie am liebsten Fundamentalisten an die Macht, die als erstes ihre Freiheitsrechte beschneiden und zu „heiligen Kriegen“ gegen „die Ungläubigen“ aufrufen. Doch wusste schließlich auch Brecht schon: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral!“

„Und wer wird die Welt ändern?“ fragt einer während der besagten Diskussion in der S-Bahn. Und ein Mädchen antwortet: „Die, denen sie nicht gefällt!“ Das hätten die heutigen Occupy-Aktivisten nicht viel anders ausgedrückt.  Fazit: Nicht alles, was Propaganda ist, muss schlechte Kunst sein.

Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?
Deutschland 1932
Regie: Slatan Dudow
Drehbuch: Bertolt Brecht / Ernst Ottwalt
Musik: Hanns Eisler
Balladen: Helene Weigel und Ernst Busch
Darsteller: Alfred Schäfer, Hertha Thiele, Max Sablotzki, Lili Schoenborn, Willi Schur, Ernst Busch, Martha Wolter, Adolf Fischer, Ernst Geschonneck u.v.a.
In weiteren Rollen: 4 000 Mitglieder des Arbeitersportvereins Fichte, die Arbeiterspieltruppe „Das rote Sprachrohr“, Uthmann-Chor, Sängervereinigung Norden, Arbeitersänger Groß-Berlin, Chor der Berliner Staatsoper

Veröffentlicht von on Dez 31st, 2012 und gespeichert unter DRUM HERUM, RECHT CINEASTISCH. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

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