„Freiheit bedeutet Selbstverantwortung“

Auf Gut Hugoldsdorf in Mecklenburg-Vorpommern leben junge Waldorfpädagogen das Modell eines „Bedingungslosen Grundeinkommens“

Benedikt Vallendar

Zimmer auf Gut Hugoldsdorf (Foto: Vallendar)

Zimmer auf Gut Hugoldsdorf (Fotos: Vallendar)

Greifswald / Hugoldsdorf – „Als wir 2007 hier ankamen, war das alles Brachland“, sagt Florian Lück, „voller Gestrüpp und es lag viel Unrat herum“, sagt er. Der 36-Jährige führt die Besucher über das weitläufige Gelände von Gut Hugoldsdorf in Mecklenburg-Vorpommern. Wo bis Mitte der Neunzigerjahre die Hinterlassenschaften aus vier Jahrzehnten DDR-Landwirtschaft vor sich hin wucherten, wachsen heute Erdbeeren, Kürbisse und Kartoffeln in Reih und Glied. Das Gelände macht einen gepflegten Eindruck. Hinter einem Gatter zupfen Gänse und Hühner Gras und warten auf die nächste Fütterung mit frischem Mais. Lück lebt mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn Emil (2) auf dem ehemaligen Gutshof zwischen Greifswald und Rostock in ländlicher Abgeschiedenheit. Unterstützer schicken ihnen über das Internet monatlich Geld, mit dem sie ein Auskommen haben und Sinnvolles für sich und andere tun können.

1.500 Euro monatlich für alle
Die jungen Leute haben ihr Projekt, das 2003 startete, „Captura  (aus dem Spanischen: Ergreife die Welt!)  – Arbeit sucht Einkommen“ genannt und leben seither das Modell eines Bedingungslosen Grundeinkommens, das sich als politische Forderung bislang nur bei Grünen, Linken und der Piratenpartei wiederfindet. Doch auch in konservativen Kreisen findet die Idee von einem Bedingungslosen Grundeinkommen für jeden Bürger zunehmend Befürworter, etwa durch den langjährigen, thüringischen Ministerpräsidenten Dieter Althaus (CDU) und Götz Werner, Unternehmer und Gründer der dm-Drogeriemärkte. Zu den Unterstützern eines Bedingungslosen Grundeinkommens gehört auch die Katholische Arbeitnehmerbewegung (KAB), die darin einen wichtigen Beitrag zum kirchlichen Subsidiaritätsprinzip sieht.

Florian Lück und Maria Veron gehören zu den Initiatoren von "Captura - Arbeit sucht Einkommen".

Florian Lück und Maria Veron gehören zu den Initiatoren von "Captura - Arbeit sucht Einkommen".

Die Grundidee eines Bedingungslosen Grundeinkommens, das bereits der englische Gelehrte Thomas Morus (1478 – 1535) in seinem Roman „Utopia“ von 1516 gefordert hat, besteht darin, das gesamte deutsche Sozial- und Transfersystem einschließlich des dazugehörigen Verwaltungsapparats zugunsten eines einheitlichen, aus Steuern bezahlten, lebenslangen Monatssalärs von etwa 1.500 Euro für alle legal in der Bundesrepublik lebenden Menschen zu ersetzen – ohne vorherige Anspruchsprüfung. Ein schlichtes Girokonto würde die bisherige Sozialbürokratie von jetzt auf gleich ersetzen, so die radikale Grundidee. Das hieße, ein Multimillionär bekäme das Grundeinkommen ebenso wie ein heutiger Hartz IV-Empfänger, eben „bedingungslos“. Und: Wer mehr verdienen möchte, der kann das tun, indem er weiterhin seiner Arbeit nachgeht oder als Unternehmer Geschäfte macht. Höhere Steuerbelastungen würden durch das Grundeinkommen vor allem bei unteren und mittleren Einkommen ausgeglichen, derweil, nach diversen Berechnungsmodellen, nur Haushalte mit einem Bruttojahreseinkommen von mehr als 150.000 Euro höhere Abgaben als heute hätten. „Ein Bedingungsloses Grundeinkommen gäbe dem Menschen die Möglichkeit, das aus seinem Leben zu machen, was wirklich an Begabungen in ihm steckt“, ist Florian Lück überzeugt. Keiner sei mehr gezwungen, mit Dingen seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die seiner Persönlichkeit widersprechen. So genannte „Drecksarbeit“ würde endlich besser bezahlt und Hartz IV-Empfänger nicht länger stigmatisiert. Lück, der einst sein Abitur in Bayern abgelegt hat, fallen sofort unzählige Dinge ein, die er tun würde, wäre das Bedingungslose Grundeinkommen in der Bundesrepublik schon heute Realität. „Wir könnten uns intensiv um Alte und Kranke kümmern, wir könnten intensive Gespräche mit unseren Mitmenschen führen, uns wirklich um den Nächsten kümmern, wofür sonst kaum Zeit bleibt und damit mehr Lebensqualität gewinnen“, sagt der gebürtige Schweinfurter.

Freiheit, „Sinnvolles tun zu können“
In der ländlichen Idylle Vorpommerns gehen Florian Lück und seine Mitstreiter verschiedenen Berufen nach, die sie allein aus „innerem Antrieb“ machen, wie sie sagen. Sie arbeiten als Tischler, Lehrer, Künstler oder Ausbilder bei der freiwilligen Feuerwehr im Nachbarort. Sie führen ein bescheidenes  und dennoch erfülltes, reich beschenktes Leben, sagen sie. Denn nichts sei interessanter und beglückender als die Begegnung mit anderen Menschen. „Bekommt jemand von uns, was selten passiert, mal mehr Geld, als er zum Leben braucht, wandert es in eine Gemeinschaftskasse“, sagt Lück, der in Hugoldsdorf zugleich als zweiter, stellvertretender Bürgermeister amtiert. Freiheit und Solidarität seien für ihn zwei Seiten derselben Medaille, sagt er. In den Wintermonaten wird das alte Gutshaus durch Renovierungsarbeiten der Captura-Leute Stück für Stück vor dem sicheren Verfall bewahrt.
Gut Hugoldsdorf, das über Jahrhunderte von adeligen Junkerfamilien bewirtschaftet wurde und zu DDR-Zeiten einen Konsum und eine Kneipe beherbergte, gehört seit 1997 einem Dozenten für Lehrerbildung aus Hamburg, der es den Captura-Initiatoren mietfrei zur Verfügung gestellt hat. Nur für Strom und Wasser müssen sie selbst aufkommen. „Wir verbrauchen rund 120 Euro pro Person und Monat“, sagt Lück. Geheizt wird mit Holz, das die Bewohner aus dem nahen Wald holen. Die große Gemeinschaftsküche im umgebauten Gutsfoyer ist Treffpunkt und Austauschort zugleich. Fast immer gibt es Kaffee, Tee und frische Brötchen, wodurch per se eine gemütliche Atmosphäre entsteht. „Menschen, die zu uns kommen, sollen sich schon beim Betreten der Küche wohl und angenommen fühlen“, sagt Lück. Geboren wurde die Idee „Captura“ Ende der Neunzigerjahre am Institut für Waldorfpädagogik in Witten-Annen in NRW. „Es geht darum, Freiräume für Menschen zu schaffen, damit diese herausfinden, was ihnen im Leben wirklich wichtig ist“, sagt Lück. Doch sind dem Individualismus bei Captura auch Grenzen gesetzt. Denn bei allem, was die Initiative auf die Beine stellt, ist es wichtig, auch Sinnvolles für die Gemeinschaft zu tun. „Wir haben kürzlich zentnerweise Fallobst auf den umliegenden Wiesen gesammelt, was sonst verfault wäre und es in eine nahe gelegene Mosterei gebracht“, erzählt Lück. Von dort bekamen sie dann naturbelassenen Apfelsaft, den sie selbst trinken und mit einem kleinen Aufschlag weiterverkaufen.

Menschen auf Selbstsuche
Viele Menschen, auf der Suche nach Selbstfindung und Freiräumen, haben in den vergangenen Jahren den Weg nach Gut Hugoldsdorf gefunden. Dabei gab es auch Rückschläge und Enttäuschungen. Maria Veron (27) berichtet von Leuten, die die vermeintliche „Freiheit“ mit sinnlosem Herumgammeln verwechselt hatten und Mitbewohnern durch fragwürdiges Benehmen auf die Nerven gegangen seien. „Freiheit bedeutet eben immer auch die Bereitschaft, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, ohne deren Freiheit zu beschneiden“, sagt Veron, die auf Hugoldsdorf ein Holzatelier betreibt und zwei Tage in der Woche an einer Waldorfschule in Rostock unterrichtet. Kürzlich hat sie sich einen Gebrauchtwagen angeschafft, was das Leben in der ländlichen Abgeschiedenheit ein wenig komfortabler macht. Der nächste Supermarkt liegt immerhin sieben Kilometer entfernt. „Ohne Ideen, wie sich Leben sinnvoll gestalten lässt, macht ein Grundeinkommen keinen Sinn“, sagt Florian Lück. „Bei einem Grundeinkommen gäbe es keine Ausreden mehr“, sagt Maria Veron. Jeder hätte dann eine Bringschuld, etwas Sinnvolles für sich und die Gesellschaft zu leisten, sagt sie. Denn aus der Gesellschaft würden ja auch die Mittel kommen, die dem einzelnen eine Grundexistenz überhaupt erst ermöglichten.

Kritiker befürchten „Verarmung“ der Gesellschaft
Der Soziologe Sascha Liebermann von der Universität Dortmund sieht die Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens  unabhängig von jedweder Beschäftigung. „Wer herumgammeln will, der soll das tun dürfen“, sagt er. Denn das Grundeinkommen würde ja bedingungslos ausgezahlt, so lautet seine lapidare Rechtfertigung, und ruft damit prompt die Kritiker auf den Plan. Etwa den SPD-Politiker und Münchner Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin. „Ein Bedingungsloses Grundeinkommen würde unsere Gesellschaft mittelfristig verarmen lassen, da es Innovationskraft und die Bereitschaft, sich anzustrengen, mindern würde“, sagt Nida-Rümelin. Das, was eine Gesellschaft im Innern zusammenhält, Mut, Entscheidungsfreude und Neugier, wozu auch Scheitern gehöre, wäre bei einem bedingungslosen Grundeinkommen ad absurdum geführt, sagt er. „Alle große Erfindungen und Entwicklungsschübe der Menschheit basierten stets auf Risikobereitschaft und Opferbereitschaft“, sagt Nida-Rümelin. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen würde dem Industrie- und Dienstleistungsstandort Bundesrepublik großen Schaden zufügen, da selbst einfache und sozial weniger angesehene Arbeiten nicht mehr bezahlbar wären.
Dessen ungeachtet leben die Captura-Initiatoren weiter ihren Traum von Freiheit und Selbstfindung. „Große Ideen werden bekanntlich immer zunächst nur gedacht, bevor sie Wirklichkeit werden“, gibt sich Florian Lück optimistisch. So war es bei der Französischen Revolution und beim Fall der Berliner Mauer. Und wer weiß, wann es mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen soweit ist.

Internet:
www.captura-online.de

Veröffentlicht von on Mai 13th, 2013 und gespeichert unter DRUM HERUM, SONSTIGES. Sie können die Kommentare zu diesem Beitrag via RSS verfolgen RSS 2.0. Sie können eine Antwort durch das Ausfüllen des Kommentarformulars hinterlassen oder von Ihrer Seite einen Trackback senden

Hinterlassen Sie einen Kommentar!