Zum Tod von Wolfgang Herrndorf: Unser Rezensent Benedikt Vallendar hat seinen Roman „Tschick“ gelesen
Die Szene, in der Andrej Tschichatschow, genannt „Tschik“, zum ersten Mal den Geschichtsunterricht bei Studienrat Wagenbach in der achten Klasse des Hagecius-Gymnasiums betritt, könnte zum Klassiker der deutschen Literaturgeschichte werden. Gut möglich, dass sich der Autor Wolfgang Herrndorf (Jahrgang 1965) von Heinz Rühmanns legendärem Auftritt als Hans Pfeiffer im Spielfilm „Feuerzangenbowle“ von 1944 hat inspirieren lassen
Beim Anblick der beiden, Tschick neben Wagenbach und dessen „brauner Kacktasche“, hat der Ich-Erzähler, Maik Klingenberg, Einzelkind aus reichem Hause mit alkoholkranker Mutter und ständig fremd gehendem Vater, das Gefühl, „zwei Arschlöcher auf einem Haufen“ vor sich zu haben. Dabei ist es der Beginn einer seltsamen Freundschaft zweier Antihelden, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Maik, der melancholische Träumer, der von Selbstzweifeln und Komplexen geprägt und obendrein noch heillos in die schöne Tatjana verknallt ist, und daneben der cool-dreiste Tschick, Kind russischer Spätaussiedler mit homophilen Neigungen, der es irgendwie von der Förderschule aufs Gymnasium geschafft hat und seine Mathe-Arbeiten mit Zwei schreibt, obwohl er meistens „hacke dicht“ in die Schule kommt.
Die Sommerferien haben gerade begonnen, da taucht Tschick bei Maik zu Hause mit einem geklauten Lada Niva auf, und es beginnt eine Reise in die „glühend heiße deutsche Provinz“, die einer Mischung aus Roadmovie und Abenteuerroman gleicht. Erstes Ziel ist Werder, jenes verschlafene Nest vor den Toren Berlins, wo Tatjana in einer alten Villa ohne Eltern Geburtstag feiert. Tschick und Maik sind ungebetene Gäste und machen sich alsbald vom Acker. Nach einer halsbrecherischen Flucht vor der Polizei über Landstraße und Autobahn, die noch zu den harmloseren Szenen des Buches gehört, treffen Maik und Tschick schließlich auf einer Müllhalde die dort lebende Isa, mit der der 14-Jährige Ich-Erzähler die erste kurz-erotische Begegnung seines Lebens hat.
Wer das Buch gelesen hat, der wird, angesichts des atemberaubenden Tempos, mit dem Wolfgang Herrndorf, Preisträger der Leipziger Buchmesse 2012, seine Leser an fiktive Schauplätze in der Mark Brandenburg entführt, erst einmal tief durchatmen müssen.
Das Buch firmiert als „Bildungsroman“. Doch ist fraglich, ob es dem Autor tatsächlich um die Entwicklung zweier Protagonisten gegangen ist, oder ob er sich mit seinem 252-Seiten-Oeuvre einfach nur wilde Phantasien rund um jene urwüchsige Seenlandschaft außerhalb Berlins, die bis 1989 für die meisten Deutschen terra inkognita war, von der Seele schreiben wollte.
Wolfgang Herrndorf
Tschick. Roman
Rowohlt Berlin
Hardcover, 256 S.
17.09.2010
16,95 €
ISBN 978-3-87134-710-8