In seinem neuesten Buch „Metropolen der Moderne“ wagt Friedrich Lenger eine hehre These und räumt zugleich mit einem Mythos auf
Benedikt Vallendar
München – Wer als Student das Buch gelesen hat, wird vielleicht ins Grübeln geraten. Wäre es nicht doch besser gewesen, in einer kleineren Stadt zu studieren, als in Hamburg, Berlin oder Köln? Bietet die Großstadt immer so viele „Freiräume“ wie es landläufig angenommen wird? In seinem monumentalen, fast 800 Seiten umfassenden Werk zur europäischen Stadtgeschichte seit 1850 beschreibt Friedrich Lenger, Professor für Neuere Geschichte an der Uni Gießen die Untiefen und Umbrüche, die europäische Metropolen in den vergangenen fünfzehn Dekaden erlebt haben. Dabei bewegt er sich kontinuierlich zwischen den Koordinaten Freiheit, Fortschritt und Abhandenkommen der Individualität infolge zunehmender Anonymität, der der Stadtbewohner zwangsläufig eher ausgesetzt ist als jemand, der auf dem Dorf lebt.
Für Lenger waren es allein die Städte, die das hervorgebracht haben, was der Volksmund schlechterdings unter „Fortschritt“ versteht. Leider lässt es der Autor an dem Hinweis missen, dass spektakuläre Neuerungen in Wissenschaft, Kunst und Architektur, die zweifelsohne ihren Platz in den Städten hatten und haben, stets nur von einem kleinen, elitären Bevölkerungsteil ausgegangen sind, derweil die städtische Masse von jeher um ihr täglich Einkommen bemüht ist. Der Titel „Metropolen der Moderne“ ist daher irreführend. Denn anders als Menschen auf dem Land zahlt der Stadtbewohner von jeher einen höheren Preis für alles, was ihm sein urbanes Umfeld an vermeintlichen Vorteilen bringt. Kriminalität, soziale Konflikte, Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und nicht zuletzt die bis heute teils prekäre Lage in Sachen Wohnraumversorgung lassen daran zweifeln, ob europäische Städte, ob Großstädte generell tatsächlich als Avantgarde des Fortschritts gelten können, wie der Autor es wiederholt behauptet. Lenger gelingt es nur phasenweise, das in Metropolen zwangsläufig Eruptionen erzeugende Spannungsfeld zwischen hegelianischem Avantgardismus und marxistischem Materialismus zu relativieren, etwa indem er auf die Verbrechen des Nazis in sowjetischen Großstädten während des zweiten Weltkrieges oder die letztendlich ins Leere führenden Studentenkrawalle in Paris, Triest und Rom Ende der Sechzigerjahre verweist. Der seit dem Mittelalter kursierende Mythos von der ewig frei machenden „Stadtluft“ wird nachhaltig in Frage gestellt. Dennoch fehlt es dem Werk an einer durchgehend erkennbaren Hypothese, einer roten Linie, an der sich der Leser entlang orientieren könnte. Das Buch ist vielmehr eine in nette Prosa verfasste Narrativerung dessen, was europäische Städte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erlebt haben, leider ohne den Begriff der „Moderne“ kritisch zu hinterfragen.
Friedrich Lenger
Metropolen der Moderne
Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850
757 Seiten mit 57 Abb. und ein 64seitiger Tafelteil mit 64 Farbabbildungen Leinen 49.95 Euro, München C.H. Beck 2013
Wie der Wind in Trauerweiden
Tönt des frommen Sängers Lied,
Wenn er auf die Lasterfreuden
In den großen Städten sieht.
Ach, die sittenlose Presse!
Tut sie nicht in früher Stund
All die sündlichen Exzesse
Schon den Bürgersleuten kund?!
Offenbach ist im Thalia,
Hier sind Bälle, da Konzerts.
Annchen, Hannchen und Maria
Hüpft vor Freuden schon das Herz.
Kaum trank man die letzte Tasse,
Putzt man schon den ird’schen Leib.
Auf dem Walle, auf der Gasse
Wimmelt man zum Zeitvertreib.
Wie sie schauen, wie sie grüßen!
Hier die zierlichen Mosjös,
Dort die Damen mit den süßen,
Himmlisch hohen Prachtpopös.
Und der Jud mit krummer Ferse,
Krummer Nas‘ und krummer Hos‘
Schlängelt sich zur hohen Börse
Tiefverderbt und seelenlos.
Schweigen will ich von Lokalen,
Wo der Böse nächtlich praßt,
Wo im Kreis der Liberalen
Man den Heil’gen Vater haßt.
Schweigen will ich von Konzerten,
Wo der Kenner hoch entzückt
Mit dem seelenvoll-verklärten
Opernglase um sich blickt,
Wo mit weichen Wogebusen
Man schön warm beisammen sitzt,
Wo der hehre Chor der Musen,
Wo Apollo selber schwitzt.
Schweigen will ich vom Theater,
Wie von da, des Abends spät,
Schöne Mutter, alter Vater
Arm in Arm nach Hause geht.
Zwar man zeuget viele Kinder,
Doch man denket nichts dabei.
Und die Kinder werden Sünder,
Wenn’s den Eltern einerlei.
»Komm Helenchen!« sprach der brave
Vormund – »Komm, mein liebes Kind!
Komm aufs Land, wo sanfte Schafe
Und die frommen Lämmer sind.
Da ist Onkel, da ist Tante,
Da ist Tugend und Verstand,
Da sind deine Anverwandte!«
So kam Lenchen auf das Land.
(Aus: Wilhelm Busch, Die fromme Helene, 1872)